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Vom Mythos des "Arischen Volksstammes"

S. Scholz 1994

1. Der Ahnenmythos

Der blonde, blauäugige Arier, angesiedelt in Nordeuropa, überlegen und ausgestattet mit genetischer Reinheit der Rasse, war das Produkt vieler intellektueller Einflüsse, von denen die Gründung der Indogermanistischen Sprachwissenschaft nur einer war. Leon Poliakov hat aufgezeigt, daß die Wurzeln zu solch einer Karikatur weit in die Vergangenheit zurückreicht und allgemein fast allen europäischen Völkern zu Eigen ist in ihrem Bestreben nach möglichst illustren und großartigen Urahnen. Die Römer suchten ihre Vorfahren in Troja, die mittelalterliche Aristokratie Spaniens legten auf überlegenes Visigotisches Blut wert, das sie sowohl von ihren Untertanen absetzte als auch sie über diese stellte. Die Franzosen verfallen in chronische Schizophrenie, wenn sie sich entscheiden sollen, ob sie in der Linie des Vercingetorix und seiner Gallier (Kelten) stehen, oder aber in der Karl des Großen (Charlemagne) und der Franken (Germanen). Manche Engländer, die mit ihrer Mixtur aus Britonischen, Angel-Sächsischen, Wikingischen und Normannischen Vorfahren scheinbar nicht zufrieden waren, fanden es gar notwendig, einen verloren gegangenen Stamm Israels an ihre Küsten zu verschlagen um sich noch älterer und religiös bedeutenderer Vorväter zu versichern.
Die Deutschen nun sahen die Wurzeln ihrer eigenen Geschichte in den Veränderungen durch die Völkerwanderungen, die eben diese illustren Vorväter ihrer Nachbarn hervorbrachten. Wenn Tacitus schon erwähnte, die Germanen seien "reinen Blutes", unvermischt mit anderen Rassen und (deshalb) autochton, gab es wenig Grund, daran zu zweifeln, daß ihr Ursprung in Nordeuropa lag. Als die Kirche eine biblische Verbindung benötigte, konnte Ashkenaz, ein Enkel Japhets, gefunden werden, der den Weg nach Nordeuropa fand und die Germanen auch in diesem Rahmen etablierte. Gerade während der Reformation konnte man damit auch stolz darauf sein, sich von der degenerierten und korrupten Welt Roms abzusetzen. Im 18. und 19. Jh., durch den industriellen und intellektuellen Aufstieg der "germanisch"sprachigen Länder unterstützt, wuchs der Glaube an die germanische Autochtonie und die Stärke der Nordischen Völker. Dieser Glaube wurde unterstützt durch verschiedenste Forschungsergebnisse, sowohl im anthropologischen Rahmen wie auch in der vergleichenden Sprachwissenschaft [1].
Mit dem Aufstieg der Anthropologie fiel die Konzeption der Rassentheorie zusammen. Westliche Gelehrte konnten, als sie einmal die verschiedenen menschlichen Rassen als Theorem isoliert hatten, der Versuchung nicht widerstehen, ihre eigene, damals "Kaukasische", über die anderen zu plazieren. "Rasse" wurde schnell mit ethnischer Gruppe, Nation und Sprache verwechselt oder gleichgesetzt. Die Geschichte wurde reduziert auf eine Anzahl von Rassen, die jeweils eine Zeitlang die Macht hatten, um sie dann an eine stärkere, "energiereichere" zu verlieren. Darwins Evolutionstheorie wurde kräftigst missverständlich auf alles übertragen, was sich irgendwie zu "entwickeln" schien, seien es Rassen, Nationen, Ethnien oder gar soziale oder wirtschaftliche Verhältnisse. Die geschäftigen Häfen Englands, Hollands, Deutschlands und Skandinaviens, oder auch die intellektuellen Salons in London, Berlin, Paris oder Wien ließen keinen Zweifel, wo die energischere Rasse angesiedelt ist. Die Anthropologie teilte die Rassen durch äußere Merkmale auf in hochstirnige, "dolichocephalische" Rassen des Nordens und niedrigstirnige, "brachycephalische" des Südens, und machte die Überlegenheit der nordischen Rasse "messbar". Damit war der blauäugige, blonde Urahn nicht nur eine romantische Idee, ab dem Ende des 19. Jh. konnte man "wissenschaftlich bestätigt" auf einen überlegenen, edlen Vorfahren zurückblicken, der "echte" ethnische Identität verlieh.


2. Die Entdeckung der "Arier"

Die Entdeckung der Indoeuropäischen Sprachfamilie bewirkte mehr als lediglich die historischen Verbindungen zwischen vielen Europäischen und Asiatischen Sprachen zu erhellen. Sie beendete ein für alle mal die Vorstellung, daß das Hebräische die menschliche Ursprache sei, und letztendlich die der Abstammung von (einem) Adam. Folglich suchten die westlichen Gelehrten auf den Spuren indischer und iranischer Überlieferung ihre eigenen, illustreren Vorväter in Zentralasien, Persien und Indien. Indoeuropäische Forschung begann schon im frühen 19. Jh. und es geschah, dass Max Müller und andere Indogermanisten das Wort "Arisch" benutzten, um die alten Indoeuropäer zu beschreiben. Selbstverständlich mussten diese frühen Arier, wenn sie die Vorfahren der Europäer sein sollten, zur überlegenen weißen Rasse gehören.
Die frühe Linguistik machte nun noch den Fehler, die sprachliche Einteilung der Sprachen in analytische, agglutinierende und flektierende evolutorisch zu deuten und gar zu werten - so standen auch hier wieder die Arier, also Indoeuropäer, über anderen Rassen, da sie die Sprache, schon lange vor allen anderen, auf die angeblich höchste evolutorische Stufe entwickelt hatten. Canon Isaac Taylor vertrat einmal die Meinung, die Indoeuropäer seien eine "weiterentwickelte finnische Rasse" [2].
Doch selbst mit der Vereinigung überlegener Physiologie, Sprache und Kultur unter dem Namen "Arier" und deren Zurechnung zur weißen Rasse, fehlte doch noch die Festlegung der Urheimat nach Nordeuropa. Bis jetzt schrieb man den Ariern noch den Hindu Kusch oder den Himalaya zu, jedoch schon 1870 argumentierte Lazarus Geiger, daß eben weil der Arier blond und hellhäutig sei, dessen Urheimat Mitteleuropa, Deutschland, gewesen sein müsse. Der Mann aber, der die Idee der Ansiedlung der Arier in Mittel-, bzw. Nordeuropa im großen Rahmen verbreitete, war Theodor Poesche. Er suchte die Urheimat u.a. anhand der Häufigkeit des Albinismus (!), und so hatten die Arier eine Heimat in den Sumpfgebieten Osteuropas gefunden. Eine lebensfeindliche Gegend als Urheimat einer Rasse, die überlebensfähiger sei als alle anderen - Karl Penka befand das 1883 als schlüssig. Allerdings verlegte er dann doch die Arier mit Hilfe aller möglichen wissenschaftlicher Disziplinen nach Skandinavien und ließ in seinen schon sehr polemischen Arbeiten keinen Zweifel, daß dort und nur dort die Arische Urheimat liegen mußte.
Penkas Arbeiten wurden trotz aller Polemik weithin akzeptiert, und selbst bekannte Anthropologen wie Rudolf Virchow und Thomas Huxley stimmten damit überein, die Arier seien eine Rasse "blonder Dolichocephalen". Der große Indologe Max Müller, von dieser von ihm selbst mit verursachten Entwicklung angewidert, beschimpfte Anthropologen, die von "Arischer Rasse, Arischem Blut, Arischen Augen und Haaren" sprachen, als Wirrköpfe, vergleichbar mit Linguisten, die von "dolichocephalischem Wortschatz oder brachycephalischer Grammatik" sprechen würden - ist "Arisch" für ihn doch nur die Bezeichnung für eine Sprachfamilie gewesen, die nichts mit den diese sprechenden Völkern zu tun hätten, die es so nicht einmal gegeben habe. Aber es war schon zu spät. Die Überlegenheit einer Arisch- Nordischen Rasse hatte sich schon in den Köpfen zu vieler Akademiker festgesetzt und die Laien gaben sich mit Halbbildung zufrieden, konnten sie sich doch auf wahrliche Supervorfahren berufen.


3. Der zweite Weltkrieg und die Konsequenzen

In Deutschland ließ man bis zum Ende des Krieges nur eine europäische Urheimat gelten, die Auseinandersetzung beschränkte sich nur auf die Frage, ob Nordeuropa [3] oder eine Steppengegend, wie sie Osteuropa böte [4] anzusetzen sei. Aber auch im Ausland wurde eine europäische Urheimat favorisiert, nur ein paar wenige setzten die Indoeuropäer nach Asien. Die Verwechslung einer linguistischen Bezeichnung mit anthropologischen, politisch- ideologischen und romantisierten Inhalten blieb weitestgehend unverändert. Der zweite Weltkrieg und seine Ergebnisse erst zwang die akademischen Kreise zu einem Umdenken, die politischen Auswirkungen unwissenschaftlichen Arbeitens wurden offensichtlich.
Der Mythos der arischen Überlegenheit, in anthropologischen Veröffentlichungen stärker als in linguistischen, war, verschieden ausgeprägt, ein weit verbreitetes Phänomen bis die Konsequenzen auf politischer Seite ihn in der akademischen Welt (endlich) zum Anathema machten. Der linguistische Terminus der "arischen Sprachfamilie", von den Nazis noch am Schwersten belastet und missbraucht, war nicht mehr tragbar, der Stand der Forschung sieht "Arisch" nur noch im Zusammenhang mit dem Iranischen und dessen Vorstufen, die "Indo-Arier" gelten als Vorläufer u.a. der Perser, die "genetische Reinheit" wurde ebenso in das Reich des Mythos verbannt. Yiddisch ist genauso indoeuropäisch wie jeder andere germanische Dialekt, und die romanischen Zigeuner haben eine weit größere sprachliche Nähe zum "Arischen" als jede Nordeuropäische Sprache.
Das von der Archäologie übernommene "Baum- Ast"- Entwicklungsprinzip wurde verworfen zugunsten einer Entwicklungstheorie der "überlappenden Grenzen" und der Einsicht, daß alle einen Sprachraum umgebenden und durchziehenden Einflüsse die Entwicklung einer Sprache verändern, und - vor allem - daß aus einer Sprache zwar kulturelle, jedoch schwer anthropologische Schlüsse gezogen werden können. Das zeigen auch die großen Fortschritte, die die indogermanistische Sprachwissenschaft gemacht hat, seit sie auf eine sachliche und wissenschaftliche Ebene gefunden hat.



[1] z.B. die Sprachforschung der Gebr. Grimm o.ä.
[2] Finno-Ugrisch ist eine agglutinierende Sprache, d.h. an dabei unveränderte Wurzeln werden eindeutige Suffixe angefügt.
[3] vertreten u.a. durch den Archäologen Gustav Kossina und seine Anhänger, den Linguisten Hermann Hirt und viele andere, die jedoch meist nur versuchten, Naziideologie pseudowissenschaftlich zu "beweisen".
[4] Otto Schrader, Sigmund Feist, Alfons Nehring, Wilhelm Brandenstein, Wilhelm Koppers.

Literatur:

Mallory, J.P.: In Search of the Indo- Europeans. Language, Archaeologie and Myth. London: Thames and Hudson Ltd. 1989
Mallory, J.P.: A Short History of the Indo- European Problem. JIES 1 (1973): 21-65
Poliakov, L.: The Aryan Myth. London: 1974

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