Wogenrösser und Sonnensteine

24. Oktober 2008 | Von | Kategorie: Erforscht & Entdeckt

Schiffe und Navigation der Wikinger auf ihren Entdeckungsreisen

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Steven eines Wikingerschiffs (Rekonstruktion) (Foto: Volkmar Kuhnle)

Entdecker aus Zufall?
Die Entdeckungsreisen der Wikinger werden in ihrer historischen Bedeutung oft unterschätzt.
Zum Teil mag das daran liegen, dass viele der Entdeckungsreisen, wie die nach Svalbard (Spitzbergen) oder ins Weiße Meer heute für „unwichtig“ gehalten werden. Andere Fahrten werden wegen eines auf West- und Mitteuropa konzentrierten Gesichtsbildes übersehen – zum Beispiel wird leicht vergessen, wie wichtig die von den Warägern (schwedischen Wikingern) erschlossene Schifffahrts- und Handelsroute von der Ostsee über die großen Flüsse Osteuropas ins Schwarze Meer für die Entwicklung Russlands war. Etwas verkürzt: Ohne Flussschifffahrt kein Russland und ohne Waräger keine Flussschifffahrt. Das Wort „Russe“ ist wahrscheinlich von „Rus“, Ruderer, abgeleitet. Hinzu kommen ideologische Scheuklappen: z. B. wurde in der UdSSR die „Normannentheorie“, nach der die Gründung des ersten russischen Staates auf Waräger zurückgeht, bekämpft und unter Stalin sogar als Naziideologie beschimpft.
Etwas anders sieht es mit den Grönland- und Amerikafahrten der Wikinger aus – sie gelten aber als historisch bedeutungslos. Vielleicht, weil die „Nordmänner“ es nicht geschafft hatten, weite Teile Amerikas zu erobern und die Ureinwohner zu unterwerfen oder auszurotten?

Gelegentlich ist zu lesen, dass den Wikingern die kulturellen Vorraussetzungen für Entdeckungsreisen ins Unbekannte im Stile der frühen Neuzeit noch gefehlt hätten. Sie wären noch weitgehend primitiv denkende frühmittelalterliche „Bauernkrieger“ gewesen, alle ihre Fahrten hätten rein pragmatische Ziele gehabt: Siedlungsraum, Beute, Handel. Ihre Entdeckungsreisen wären zufällige Irrfahrten gewesen, bei denen es einige Seefahrer an unbekannte Küsten verschlagen hätte. Gelang es den Irrfahrern, zurück zu kehren, und gab es in dem zufällig entdeckten Land etwas zu holen – Land oder leichte Beute – dann folgten vielleicht weitere Wikinger dem unfreiwilligen Entdecker. Die Entdeckungsgeschichte Grönlands und Vinlands spräche für diese These.

Auf den ersten Blick scheint das sogar zu stimmen.
Grönland wurde wahrscheinlich schon im Jahre 875 zufällig gesichtet. Gunnbjörn Ulfsson soll eine westlich von Island liegende, eisige und ungastliche Küste entdeckt haben. Ein Sturm triebt ihn so weit ab, dass er im Osten gerade noch die Gletscher des Snaefellsjökul erkennen konnte und im Westen einen anderen Gletscher auftauchen sah. Wegen der immerhin 500 Kilometer Entfernung zwischen Island und Grönland wird der Saga-Bericht oft ins Reich der Legende verwiesen, angesichts der in dieser Gegend nicht selten auftretenden abnormen Strahlungsbrechung sind solche erstaunlichen Sichtverhältnisse keineswegs unwahrscheinlich. Da die Isländer in späterer Zeit wussten, dass den Küsten Ostgrönlands ein dichter Treibeisgürtel vorgelagert war, der ein Anlanden fast unmöglich macht, kann vermutet werden, dass Gunnbjörns Entdeckung neugierige und abenteuerlustige Seefahrer zu Erkundungsreisen angeregt hatte.
Der eigentlich Entdecker Grönlands ist aber Erik der Rote , ein Isländer norwegischer Herkunft. Folgt man der Eirikssaga, dann geriet der für seinen Jähzorn bekannte Erik ungefähr um 980 mit einem Nachbarn in Streit, der zu einem Handgemenge eskalierte, in dessen Verlauf er und seine Leute ein paar Leute seines Gegners töteten. Erik wurde vom Thing von Thornsnaess zu dreijährigen Friedlosigkeit verurteilt – also aus der Gemeinschaft verbannt. Er brach mit seinem Schiff und einer handvoll Gefährten auf, um jenes Land zu erkunden, das Gunnbjörn einst gesehen hatte. Knapp drei Jahre hielt sich Erik in Grönland auf und erforschte die Westküste, vermutlich bis zur Disko-Bucht im Norden. Im Südwesten entdeckte er grüne, fruchtbare Fjordufer, besseres Land, als es zu Hause in einem ziemlich öden Teil Island besaß. In den Sagas wird erzählt, dass er dort keine Menschen antraf, sich darüber klar war, dass dort früher Menschen gelebt haben müssen.
Wieder in Island, beschloss er, in dem neuen Land zu siedeln, wozu er natürlich Mitstreiter brauchte. Erik schlug jetzt die Werbetrommel für das Land, dem er nun den Namen Grönland, Grünes Land, gab, weil, wie die alten Sagas zu berichten wissen: „es sicher genügend Menschen anlocken werde, wenn es einen so schönen Namen hat.“ Viele folgten seinem Ruf. 25 Schiffe, von denen nur 14 ihr Ziel erreichten, brachen als erste Siedlungswelle nach Grönland auf.
Folgt man der Grönlandsaga, der zweiten, wichtigen Saga, die über die „Amerikafahrten“ berichtet, war der „Entdecker Amerikas“ Bjarni , ein Sohn Herjulfs, eines der ursprünglichen Begleiter Eriks. Bjarni kehrte aus Norwegen nach Island heim und fand den Hof seines Vaters verlassen vor. Er beschloss seinen Eltern nachzusegeln. Nach anfänglich günstigem Wind verlor er bei Flaute, Nebel und späterem Nordwind nach vielen Tagen die Orientierung. Er als sie endlich die Sonne wieder sahen, konnten die Seeleute wieder die acht Himmelsrichtungen bestimmen. Sie setzten die Segel und erreichten nach einem Tag ein bewaldetes Land, dass offensichtlich nicht Grönland sein konnte. Zwei Tage später kam eine sehr flache Küste in Sicht, die ebenfalls nicht nach Grönland aussah. Seine Leute bedrängten ihn, an Land zu gehen, Bjarni Herjulfsson wollte mit kein unnötiges Risiko mit einer Landung eingehen und blieb hart, da noch genügend Trinkwasser und Brennholz an Bord war. Beständiger Südwestwind brachte sie nach drei Tagen an ein hohes Land mit Gletschern. Auch hier lehnte der vorsichtige Bjarni eine Landung ab. Nach einer stürmischen viertägigen Seereise tauchte endlich eine Landzunge aus dem Dunst auf – Herjulfsness an der Südwestküste Grönlands, ganz in der Nähe der neuen Heimat seines Vaters.

Wie zuverlässig sind diese Sagatexte? Die älteste bekannte Quelle für die Entdeckung Vinlands ist Adam von Bremens „Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum“ (verfasst 1076) . Sie stimmt inhaltlich im Kern mit der Grönlandsaga („Grænlendinga saga“), überein, im großen und ganzen auch mit der jüngeren, im Detail und in der Perspektive von der Grönlandsaga abweichenden Saga von Erik dem Roten („Eiríks saga rauða“),

Die Grönland-Saga wurden wahrscheinlich erst nach etwa 100 Jahren mündlicher Überlieferung niedergeschrieben, die Eriks-Saga sogar erst nach 1264, so dass sich Dichtung und Wahrheit mischen. Tatsächlich haben viele Sagatexte einen unverkennbar hohen Gehalt an Seemannsgarn- und Soldatenlatein. Hinzu kommt, dass die Sagas gnadenlos subjektiv bzw. parteiisch sind. Andererseits werden gerade die Texte der Grönlandssaga durch andere Quellen, wie das Isländigabok , bestätigt und stimmen mit den archäologischen Grabungsergebnissen überein. Die Grönlandsaga dürfte gerade in den Details eine brauchbare Quelle sein.

Obwohl Bjarni im Nebel die Orientierung verlor, scheint es um die Seemannschaft des erst etwa 20-jährigen sehr gut bestellt gewesen zu sein. Immerhin traute er es sich zu, die Siedlung der Grönland-Wikinger zu finden, obwohl niemand von seiner Besatzung bisher in grönländischen Gewässern gewesen war, also nur nach einer mündlichen Beschreibung. Unter diesen Umständen verwundert eine „Irrfahrt“ nicht im Mindesten, es ist eher erstaunlich, dass er sein Ziel noch relativ schnell erreichte. Entgegen dem Klischee vom tollkühnen und todesverachtenden Wikinger war er ein vorsichtiger Seemann. Mit seinem festen Ziel vor Augen hatte er keinen Grund, Schiff und Besatzung bei Land-Abenteuern aufs Spiel zu setzen. Außerdem erwähnt der Sagatext eine Methode, die Himmelsrichtungen mittels Sonnenstand genau zu bestimmen.
Rechnet man die Angaben zurück, so kann es sich bei der ersten Landsichtung nur um den amerikanischen Kontinent gehandelt haben. Bei den angegebenen Kursen und Distanzen dürfte die zweite Landsichtung die flache und kahle Küste Labradors gewesen sein, während das Land mit den Gletschern und Bergen wahrscheinlich Baffinland war. Der weiter gesegelte Kurs führte an die grönländische Südwestküste.

Leif , der Sohn Eriks der Roten, brach mit dem Schiff Bjarnis und fünfundzwanzig Mann auf, um zu erkunden, wie es sich mit dem von Bjarni gesichteten Ländern im Westen verhielt. Zunächst suchten sie das zuletzt gesehen Land auf und nannten es Helluland (Felsenland). Danach landete Leif Eriksson an einer dicht bewaldeten Küste mit flachem Sandstrand, die er Markland (Waldland) nannte. Bei günstigem Nordostwind kam nach zwei Tagen erneut Land in Sicht, eine fruchtbares Land mit reichen Fischgründen. Leif ließ hier ein Haus errichten und nannte das Land Vinland – gemäß dem Sagatext, weil es dort Weintrauben gab. Das hat zu zum Teil recht wilden Spekulationen hinsichtlich der geographischen Lange dieses Landes geführt; man darf dabei allerdings nicht außer Acht lassen, dass z. B. die rote Johannisbeere noch heute im Schwedischen „Vinbär“ heißt und kaum einer der Nordleute Weintrauben aus eigener Anschauung kannte.
Eine andere Theorie besagt, Vinland käme vom altnordischen „winjo“, Weideland. Das würde allerdings eine sehr verschliffene, sprachlich ungenaue Überlieferung voraussetzen, gegen die die Genauigkeit des übrigen Sagatextes spricht.

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rekonstruierte Wikingerhäuser – Leifsbaudir auf Neufundland wird ähnlich ausgesehen haben (Foto: Volkmar Kuhnle)

Obwohl die von Thorfinn Karlsefni eingeleitete Besiedlung Vinlands eine kurze Episode blieb, setzten die Grönland-Wikinger ihre Amerika-Fahrten offenbar mindestens bis ins 14. Jahrhundert fort. Darauf deuten Funde von Münzen (z. B. dem Maine Penny, einer norwegischen Münze, die in der Regierungszeit Olaf Kirres (1065 bis 1080) geprägt wurde), später auch Metallteilen, stählernen Pfeilspitzen und charakteristischen Holzschnitzereien der Normannen im nördlichen Kanada ebenso hin, wie ein erst 1993 in der Nähe von Cape Cod in Massachusetts gefundener Runenstein, an dessen Echtheit es im Gegensatz zum wahrscheinlich gefälschten „Kensington-Stone“ kaum Zweifel gibt. Funde, die nach 2000 im westlichen Baffinland, in der kanadischen Arktis, gemacht wurden, deuten sogar auf Kontakte zwischen Einheimischen und Nordeuropäern vor der Zeit Leif Erikssons hin.

Anstoß für die Entdeckungsreisen gaben sicherlich in den meisten Fällen zufällige Landsichtungen. Es folgten dann jedoch planmäßige Forschungsreisen, denen in der Regel recht schnell Siedler folgten.
Die Nordmänner waren nicht so engstirnig, dass allein Landhunger und Beutegier Triebfedern ihren kühnen Seereisen gewesen wären. Abenteuerlust um ihrer selbst – oder um der Selbstbestätigung willen – und eine nicht unbeträchtliche Neugier waren feste Bestandteile der normannischen Mentalität. Alle Quellen sprechen für einen ausgeprägten Individualismus. Wer weit gereist war, genoss hohes Ansehen. Der Drang, sein „eigenes Glück zu machen“ war mindestens so ausgeprägt wie bei neuzeitlichen Abenteurern. Vergessen wir nicht: Auch die großen Entdeckungsreisen der Renaissance waren – von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie den planmäßig vorangetriebenen Expeditionen der Portugiesen in der Nachfolge Prinz Heinrichs „des Seefahrers“ – keineswegs besser vorbereitet und motiviert als die der Wikinger.

Teil 2: Die Schiffe

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