Wie ich lernte, wie vernünftig Unvernunft sein kann

10. Mai 2017 | Von | Kategorie: Ættlings-Alltag

Autor: MartinM

Durch unsere grau gewordenen Zellen lasst ein rotes Mammut ziehn.

Eibensang – „Thors Wiederkehr“

Vielleicht nicht die Hauptrolle, aber die wichtigste weibliche Nebenrolle in meinem persönlichen spirituellen Drama spielt die „Weisheit“.

Was mich betrifft, ist es für Menschen und andere Wesenheiten, die mich kennen, kein Geheimnis, dass ich ziemlich „verkopft“ bin. Ich gehöre zu den Typen, die ungern spontan handeln und für die Überraschungen – auch angenehme – erst einmal und vor allem Stress bedeuten. Die sich nicht mit einem „Plan B“ begnügen, sondern die gern noch die „Pläne C bis Z“ parat halten (die dann nicht selten alle nichts taugen).
Es ist eigentlich ein Wunder, wieso ich mich lange Zeit wunderte, dass ich ein total langweiliges Leben führte.
Dazu muss ich sagen, dass ich damals glaubte, Atheist sein zu müssen – alles anderes sei ja unvernünftig – und dass ich einem „sittenchristlichen“, oder genauer gesagt, „sittenprotestantischen“ Moral-Ideal nachstrebte. Für eine protestantische Arbeitsmoral und die „typisch protestantische“ dauernde Gewissensprüfung ist der Glaube an einen Gott überflüssig, für die „typisch katholische“ Überhöhung des Leidens übrigens auch.

Im Laufe der Jahre erlebte ich Einiges, was mit einem streng materialistischen und deterministischen Weltbild nicht ohne weiteres vereinbar war. Irgendwann stieß mir zuerst das „Heidentum“ und wenig später „Asatru“ zu. Und damit die Einsicht, dass es ganz bestimmt nicht vernünftig ist, immer vernünftig zu sein.

Die erste Göttin, die mir „zustieß“ – ungefragt und überraschend – war weder Asin noch Vanin. Es war die Göttin der Weisheit, und man kennt sie als Pallas Athena. Gemeinhin gilt sich als griechische Göttin, aber ihre Herkunft ist vorgriechisch.Ja, und ursprünglich war sie auch keine (buchstäbliche) Kopfgeburt des Zeus, wie es die seit Hesiod notorisch frauenfeindliche Mythologie der patriarchalisch gewordenen Hellenen wissen will!
Ich verehre mittlerweile eine ganze Reihe weise Göttinnen, aus dem nordischen Pantheon zu nennen wäre Frigg, und es ich halte es für keinen Zufall, dass die Weisheit, wie auch die Vernunft, weiblich sind.
„Weisheit“ ist, weißfrigg, ja weitaus mehr als „Vernunft“. Unter anderem ist Weisheit die Fähigkeit, Wissen sinnvoll einzusetzen, so dass es zum größten möglichen Glück für alle beiträgt. Womit sich gleich die Frage nach dem „Sinn“, die nach dem „Glück“ und der nach „für alle“ anschließt.

Odin, intellektuelles Schwergewicht unter den Göttern und – für einen Mann – verdammt weise, ist nicht zufällig auch der Gott der Ekstase. Vernünftig im umgangssprachlichen Sinne ist der Alte nicht immer. Unweise nie.

Es war nicht der Philosophieunterricht in der Oberstufe Gymnasium damals, die von den meisten Schülern verschmähte Alternative zum Religionsunterricht, in dem ich lernte: „Vernunft“ ist eine notwendige, aber nicht hinreichende, Bedingung dafür, sich „weise“ nennen zu dürfen.
Das lernte ich erst viel später, oft aus eigener Erfahrung, manchmal auf die harte Tour.
Bezeichnend übrigens, dass die meisten meiner Mitschüler lieber „Reli“ als „Philo“ belegten, weil in „Reli“ die Anforderungen und Ziele klarer waren. Zu Deutsch: Es ließ sich leichter absehen, welcher „Stoff“ klausurrelevant war und womit man „punkten“ konnte. Auch damals schon wurde auf „gute Abinote“ hin gelernt, seitdem ist es noch deutlich schlimmer geworden. In den Philosophie-Kursen sammelten sich infolgedessen die „Pfaffenfresser“ und „Kampfatheisten“.
Das Wichtigste, was ich im Philosophie-Unterricht lernte: Der größte Unsinn ist es, zu glauben, den Sinn des Lebens gefunden zu habe. Es dauerte eine Weile, bis ich lernte, diesen Weisheitsbrocken auf die „Vernunft“ anzuwenden.

Vernunft alleine hat noch keinen intelligenten Menschen daran gehindert, Dummes zu tun. Ja, man kann zugleich sehr intelligent und sehr dumm, im Sinne von „Dummes tun“ sein. (Ich war sehr oft dumm.) Und es gibt Menschen, die trotz bescheidenem IQ und fehlender Bildung bemerkenswert klug – lebensklug – handeln. Vernünftiges Verhalten kann in glatten Blödfug umschlagen, vernünftige Überlegungen können zu unvernünftigem Verhalten führen.
Und sehr oft ist, wenn von „Vernunft“ die Rede ist, der Konsensus der Dummheit gemeint.

Dann gibt es da noch etwas, was manche nach Horkheimer „instrumentelle Vernunft“ und andere „Zweck-Mittel-Rationalität“ nennen. Mit vernünftigen, technisch-rational angemessenen Mittel wird ein belieber Zweck erfüllt. Reflektiert werden nur die Mittel, niemals der Zweck, der wird einfach vorausgesetzt. Die Zwecke selbst können unvernünftig bis irrational sein. Die irrationalen Ziele reichen vom durchaus gängigen „Der Unternehmensgewinn muss jedes Jahr um mindestens 150% steigen!“ bis zu: „Alle Juden und alles Jüdische muss restlos von dieser Erde getilgt werden!“
Instrumentelle Vernunft auch im Alltag, die nur nach dem „Wie“, nie jedoch nach dem „Sinn“ fragt, ist ungemein typisch für die „Generation Karriereplan“, die derzeit (noch) in Wirtschaft, Politik und Publizistik tonangebend ist, und zu der ich dem Jahrgang nach gehöre. Es ist eine Binsenweisheit, nicht nur der Ökologie, dass man in einem begrenzten System nicht unbegrenzt wachsen kann. Karriereplaner streben danach, einen immer größeren Anteil am Kuchen haben zu wollen. Damit tragen sie mutwillig dazu bei, dass das System vernichtet wird. Nicht nur für sie gilt: Wer seinen „Sinn des Lebens“ darin sieht, durch die Anhäufung von Gütern, von Prestige oder von Macht zu wachsen, der wird sich verdammt schnell leer und sinnentleert fühlen.

Es gibt drei bewährte Strategien, die in Kombination zwar nicht „Glücklich sein“ garantieren, aber immerhin dazu beitragen, sich glücklicher zu fühlen. Die – berühmt-berüchtigte – Selbstverwirklichung, das Engagement für eine „größere Sache“, sprich, die Erweiterung des eigenen Lebenssinns über die eigenen Interessen hinaus, und Hedonismus. Hedonismus ist das Streben nach Freude, Vergnügen, Lust, Genuss und sinnliche Begierde und hat in monotheistisch geprägten Kulturen traditionell eine schlechte Presse. „Hedonismus“ wird auf eine nur an momentanen Genüssen orientierte egoistische Lebenseinstellung reduziert.
Schon Epikur (341–270 v. u. Z.), prominentester philosophischer Hedonist, kam darauf, dass hemmungslose Bedürfnisbefriedigung nicht zu Lust sondern zu Unlust führt. Damit sind wir wieder bei der Vernunft, die das Streben nach Glück leiten und zügeln sollte.

Pegasus

Ich bin das, was manche einen „kreativen Spinner“ nennen. „Spinner“, weil
meine schöpferische Energie sich nicht auf „lassen Sie sich was einfallen“ beschränken lässt. Schöpferisch sein ist bei mir Selbstzweck; ich zeichne, male, dichte, bastel, phantasiere, „spinne“, wo ich gehe und stehe. Schöpferisch sein, das ist für mich Selbstverwirklichung, höherer Sinn und hedonistischer Genuss in einem.

Hingabe und Kreativität gehen aber unter der strengen (Selbst-)Kontrolle der Vernunft so ein wie ein wöchentlich gegossener Kaktus. Die „Vernunft“ als Instanz unserer Persönlichkeit ist „innere Kritikerin“, „innere Polizistin“ und „innere TÜV-Ingenieurin“ in einem. Ungeheuer wichtig also. Ein geregeltes Leben wäre ohne sie nicht denkbar, und Menschen, denen es an verinnerlichter Vernunft mangelt, die nicht vernünftig denken können oder wollen, gehe ich möglichst weiträumig aus dem Wege. Besonders dann, wenn es ihnen außer an Vernunft auch an Einfühlungsvermögen mangelt. Der „verschrobene Erfinder“, der „spinnerte Künstler“ oder auch der „nerdige Computerprogrammierer“ sind nicht von ungefähr zum Klischee geworden, und im Unterschied zu anderen Klischeetypen sind sie keineswegs Ausnahmen. Die Vernunft ist so lebenswichtig wie die Bremse am Auto, aber mit angezogener Feststellbremse fährt es sich schlecht.

Die Idee einer Welt ohne Ekstase ist den Wunschträumen in permanenter Angst vor göttlicher Strafe lebender Menschen entsprungen: Endlich angstfrei, auch um dem Preis eines freundlosen Lebens!

Da solche angstgetriebenen Kostverächter in einer „sittenchristlichen“ Kultur bewundert werden, weil sie sichtbar am Leben leiden, die schnöden irdischen Bedürfnisse überwunden haben, oder ungewöhnliche Härte und Disziplin zeigen, wirken sie weit über die jeweilige Glaubensgemeinschaft hinaus. Argumentieren sie außerdem noch vernünftig, sind sie sogar für Feinde der organisierten Religion beispielgebend.
Nicht nur der Wunsch nach einer „puritanischen“, spaßbefreiten Welt á la Taliban oder Opus Dei mit Tanz-, Musik-, Sport-, Spiel- und Sexverboten entspringt dem finster-utopischen Denken fanatisierter ängstlicher Angstmacher, sondern auch das „vernünftige“ und „mainstreamfähige“ Streben nach einer völlig drogenfreien Welt.

Die Herstellung und Anwendung von Drogen ist eine Kulturtechnik zur Lockerung der rationalen Kontrolle. Der Gebrauch psychoaktiver Substanzen ist meistens gefährlicher als „drogenfreie“ Meditations- und Ekstasetechniken, aber nicht jenseits aller (vernünftigen) Risikoabwägungen.
Drogenkonsum selbst ist übrigens nicht verboten. Wenn ich nicht über meinen Hirnstoffwechseln entscheiden darf, wer denn sonst?
Dass Beschaffung, Besitz und Handel mit bestimmten Substanzen verboten ist, steht auf einem anderen Blatt.
Vor manchen Drogen sollten man allerdings konsequent die Finger lassen! Gerade weit verbreitete Drogen machen oft schnell und gründlich abhängig. Es dürfte nicht zuletzt am Suchtpotenzial liegen, wieso Speed, Koks und Opiate so weit verbreitet (und für Hersteller und Händler so einträglich) sind. Vorrausetzung jedes „vernünftigen“ Drogenkonsums ist die Kompetenz, diesen Konsum unter Kontrolle zu halten. Dazu gehört vor allem, sich nicht selbst vorzumachen, man hätte die Sache schon unter Kontrolle: „Es ist noch immer gut gegangen – wird schon schief gehen!“ ist ein ziemlich sicheres Motto, um es eines unschönen Tages wirklich schief gehen zu lassen. Das gilt auch für die bei uns legalen Drogen Alkohol, Nikotin und Koffein. Es gibt kaum eine Droge, die so schnell und schwer abhängig macht wie Nikotin, und keine andere Droge richtet gesamtgesellschaftlich gesehen auch nur annähernd so viel Schaden an wie Alkohol. Koffein selbst ist zwar nicht gesundheitsschädlich, der körperlichen Unversehrtheit äußerst abträglich kann es z. B. hingegen sein, mit Koffeinkompretten, Energy-Drinks oder auch viel starkem Kaffee fehlende Ruhepausen bei langen Autofahrten kompensieren zu wollen. Leider auch für Leben und Gesundheit anderer Verkehrsteilnehmer.

Trotz aller Gefahren und Probleme ist es jedoch Unsinn, zu behaupten, es sei immer schädlich Drogen zu konsumieren.
Alkohol enthemmt – manchmal ist es wichtig und gut, Hemmungen loszuwerden.
Absolut realtitätsferne Schwüre im volltrunkenen Zustand sind Bestandteil eines ehrwürdigen Asatru-Rituals, des Sumbels. Wieder nüchtern betrachtet erweisen sich diese Selbstverplichtungen manchmal als Schnaps- bzw. Met-Ideen, mitunter sind sie aber wirklich geniale Ansätze, diese Welt zu verbessern.
Hasch macht gleichgültig – na und? Beiden sehr unterschiedlichen Drogen Cannabis und Alkohol ist gemeinsam, dass sie den „inneren Zensor“ auf Urlaub schicken. „Zauberpilze“ bewirken Halluzinationen – und schalten damit die kritische Vernunft zeitweilig ab. Die Idee flißen – ob es gute Ideen sind, die da im Rausch entstanden, sollte nüchtern geprüft werden.
Manche Resultate eines LSD, Meskalin oder Psylocibin-Rausches sind alles andere als ausgeflippt, einige führten zu patentierten Erfindungen.
Es ist aber keine gute Idee, im Rausch zu schreiben – besoffene verfasste Texte lesen sich meistens auch besoffen. Da halte ich es mit dem Psychologen Morris Stein von der Universität New York, der in mehrere Studien nachwies, dass Alkohol in kleinen Mengen – „etwa wie von zwei Martinis“ -„individuellen assoziativen Prozess etwas erleichtert“. Ich mag, trotz der Anklänge an meinen Namen, keinen Martini, aber ein Gläschen Wein oder ein Bierchen erwies sich oft als hilfreich. Meine liebste und wichtigste Kreativitätsdroge heißt aber „Koffein“, in Form von starken, schwarzem Kaffee oder starkem, schwarzen Tee. Auch dieser Drogengebrauch ist durch Studien gesichert: Probanden assoziieren bereits nach zwei Tassen Kaffee spontaner und ideenreicher.

Die Kreativität verlangt einen spielerischen Umgang mit den Dingen. Selbst bei „ernsthaften“ Problemen ist oft zielführend, nicht analytisch sondern intuitiv zu denken. Eine Alltagserfahrung: Manche Probleme lösen sich buchstäblich im Schlaf. Oder auf einem langen Spaziergang. Manchmal auch beim Sex. Oder eben auch im Rausch.

Ich bin schon lange der Ansicht, dass Anti-Drogen-Kampagnen – einschließlich der von mir als gesundheitsbewußtem Nichtraucher grundsätzlich begrüßten Anti-Tabak-Kampagnen – weniger der „Volksgesundheit“ denn einer quasi-religösen Gesundheitsideologie, modisch „Healthism“ und fälschlich „Gesundheitswahn“ genannt, geschuldet sind.
Abstinenzprediger, die behaupten, dass Drogenkonsum grundsätzlich verwerflich sei, sind nicht selten tatsächlich Prediger, denn unduldsamer Moralismus ist fast immer religiös motiviert.

Drogenverbote werden ganz wesentlich durch religiöse Kräfte vorangetrieben. Der naturalistische Philosoph Michael Schmidt-Salomon vermutet, das läge daran, das Religionen seit jeher versuchen, den Rausch zu kontrollieren. Deshalb gäbe es auch so viele religiöse Vorschriften auf dem Gebiet der Sexualität. Die Religionen gäben vor, welche Lust erlaubt ist und welche nicht – und gerade deswegen könnten sie Macht über Menschen ausüben. Welche Funktion hätten die Religion denn noch, wenn es jedem freistünde, selbst zu bestimmen, welche Lüste er ausleben möchte? Also, so Schmidt-Salomon, stellen die Religionen lange Listen von Geboten und Verboten auf. Das, was sie nicht verbieten wollen oder können, bringen sie auf andere Weise unter Kontrolle. Schmidt-Salomon weißt darauf hin, dass in Deutschland viele Bierbrauereien und Weingüter in kirchlichem Besitz sind.

Auf alle Religionen trifft das bekanntlich nicht zu. Meiner Ansicht haben auch die klösterlichen Brauereien, Brennereien und Weinberge mehr mit einer eher genussfreudigen Variante des Katholizismus als mit „Kontrolle über die Gläubigen“ zu tun. Aber so ganz falsch liegt Schmidt-Salomon nicht.

Der Philosoph spielt „Captain Obvious“, wenn er feststellt, dass sich nicht alle Gläubigen an die strengen Regeln ihrer jeweiligen Religion halten. Sie hielten nach außen ein Bild aufrecht, doch wenn man etwas genauer hinsieht, stelle man fest, dass sie sehr wohl Wein trinken und Wasser predigen. Weitaus bedeutender ist seine Feststellung, es gäbe Menschen, die sich sklavisch an die religöse Gebots- und Verbotskataloge halten, da sie sie in hohem Maße verinnerlicht haben. Sie würden sich unrein fühlen, wenn sie schmutzige Gelüste ausleben würden.

Ich war niemals gläubig, und sklavisch an religiöse Gebote habe ich mich erst recht nie gehalten. Aber das Gefühl, bei bestimmten „schmutzigen Gelüsten“ „unrein“ zu sein, das Gefühl, mich schon für bloße Gedanken schämen zu müssen, das kenne ich trotzdem. Die vernünftige Einsicht half gegen diese aus kulturellem Umfeld und Erziehung stammenden Abscheu gegen bestimmte Gelüste und Bedürfnisse nicht wirklich. Was hilft: Das kreative Feuer. Befeuert von der Ekstase. Dem „außer Sich sein“.

Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.

Goya

Das stimmt. Aber beim Erwachen verwandelt sich manches Ungeheuer in überraschende Einsicht.

MartinM

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