Vor 20 Jahren – oder: Warum es die Nornirs Ætt überhaupt gibt

1. Mai 2015 | Von | Kategorie: Odins Auge Artikel

1995 sah die Welt noch anders aus:
+++ Das Internet ist nicht nur für die deutsche Bundesregierung, sondern auch für die meisten normalen und vernünftigen Menschen „Neuland”.+ Wer online geht, tut das meistens mit einem Einwahlmodem. + Flachbildschirme gibt es nur als Prototypen, + und die Handys, noch wenige Jahre zuvor backsteingroß und gefühlt bleibarrenschwer, fangen an, ihrem „denglischen” Namen Ehre zu machen und handlich zu werden. + Ein übermächtig erscheinender Software-Konzern aus den künftigen
Redmond Barrens bringt Windows 95 auf den Markt. + Mit dem „Portland Pattern Repository” stellt Ward Cunningham das erste Wiki online. + Die Suchmaschine „BackRub” wird entwickelt, der Vorläufer von „Google”. +
+ Im Sternensystem 51 Pegasi wird der erste extrasolare Planet entdeckt. + Der Kosmonaut Waleri Wladimirowitsch Poljakow kehrt nach 417 Tagen Aufenthalt auf der Raumstation „Mir” zur Erde zurück – ein bis heute unübertroffener Rekord für Weltraumaufenthalte. + Die Deutsche Post AG entsteht durch Privatisierung gemeinsam mit der Deutsche Telekom AG und der Postbank AG aus der Deutschen Bundespost. + In Hannover finden die legendären Chaostage statt, bei denen vom 3. bis zum 6. August mehr als 2000 Teilnehmer randalieren. + Das deutsche Bundesverfassungsgericht stellt im „Kruzifix-Beschluss” fest, dass das in der „Bayerischen Volksschulordnung” verlangte Anbringen eines Kreuzes im Klassenzimmer gegen die im Grundgesetz verankerte Religionsfreiheit verstößt. Die katholische Kirche Bayerns und die CSU sind über dieses Urteil – freundlich formuliert – nicht erfreut. (Es fällt manch unchristliches Wort aus dem Munde christlicher Politiker.) +
+ In Deutschland ist der „ewige Kanzler” Helmut Kohl schon 13 Jahre im Amt – es sollen noch drei weiter folgen. + Sein österreichischer Amtskollege heißt Franz Vranitzky. + In Russland versucht Staatspräsident Boris Jelzin zu regieren. + Präsident der USA ist Bill Clinton,+ und in China herrscht Präsident Jiang Zemin. +
+ Die „Hits” des Jahres sind: +
Conquest of Paradise von Vangelis, + Gangsta’s Paradise von Coolio feat. L- V. und + Wish You Were Here von der bald in der Bedeutungslosigkeit versunkenen schwedischen Band Rednex. + Aber das „große Ding” sind Techno- und House-Parties. +++

Die Lage der Heiden in Deutschland sah 1995 wenig erfreulich aus – und diejenigen der germanisch orientierten Heiden noch trüber.

Während anderswo – vor allem in den nordeuropäischen Ländern, und unter diesen vor allem in Island – ein modernes Ásatrú ohne nationalromantischen Schwampf, okkultistischen Unsinn und eingebauten Rassismus entstand, bestimmten im deutschsprachigen Raum noch völkische „Germanensekten”, latent (und ab und an akut) größenwahnsinnige „Heidenfürsten” und diverse rechtsextreme bis rechtsextremste „Braunheiden” / „Nazitrus” die „Heidenszene”. Ärgerlich war, dass damals noch mehr als heute die „Germanenmanie” der Nazis und der „Runenkult” der SS das Bild bestimmte, das sich weite Teile der Öffentlichkeit von „den Germanen” allgemein und von „germanischen Neuheiden” im Besonderen machten. Blickten kritische Beobachter auf die real existierende „Heidenszene” jener Jahre, und auf diverse Alt- und Neurechte, die mit „T-Hemden” mit der Aufschrift „Odin statt Jesus” herumliefen, dann wurden ihre negativen Einschätzungen über „germanische Neuheiden” voll und ganz bestätigt. Psychisch kranke Gewalttäter, die Sprüche wie „Odin gab mir den Befehl” absonderten, zementierten die negative Einstellung; rechtsoffene bis rechtsextreme Texte vor allem von „Neofolk” und „Pagan Black Metal”-Bands, die sich zugleich auf die germanische Mythologie bezogen, taten ein Übriges.
Besonders ärgerlich war, dass die damals vom Neonazi-Multifunktionär Jürgen Rieger geführte, erzrassistische „Artgemeinschaft” die Domain „asatru.de” abgreifen konnte.

odinstattnazis

Eine für demokratisch gesonnen Heiden ärgerliche Erscheinung dieser Jahre war der „Armanenblock”. In den 1980er und 1990er Jahren gründete der „Armanenorden” eine große Zahl Satellitenorganisationen, vor allem in der Heidenszene – z. B. die ANSE (Arbeitsgemeinschaft Naturreligiöser Stammesverbände Europas). Selbst heute noch sind einige neuheidnische Organisationen, die das auf Ariosophie beruhende hierarchische System mit Einweihungsgraden zurückgreifen, mit dem Armanenorden organisatorisch verbunden oder anderweitig verfilzt.
Da half es wenig, dass die historische, archäologische und vergleichend-etnologische Forschung ergab, dass etwas Ungermanischeres als die germanentümelnden Nazis kaum denkbar ist.
Gerade die Antifa ging damals von der Faustregel aus, dass jemand, der es mit den „germanischen Göttern” hatte oder gar Runenschmuck und einen Thorshammer trug, automatisch „irgendwie rechts” sein müsse. (Einige Antifa-Gruppen behielten diese Haltung leider bei, aber die Situation ist heute sehr viel erträglicher als damals.) Auch staatliche und kirchliche Stellen beargwöhnte „germanische Spiritualität” – selbst wenn sie nicht offen faschistisch war, wäre sie doch zumindest an ein völkisch-rassistisches Weltbild anschlussfähig.

Daher war die Gründung des „Rabenclans e. V.” 1994 als „gemeinheidnischer” Verein, der eine Alternative zu den Vorfeldorganisationen der Armanen und zu anderen in der üblen Tradition der Ariosophie stehenden Neuheidengruppen bot, enorm wichtig. Wobei der „Rabenclan”, im Gegensatz zu praktisch allen damals existierenden Heidengruppen- und -Vereinen, sich nicht als „unpolitisch” verstand. Der „Rabenclan” wurde von Mitgliedern der späteren Nornirs Ætt mitbegründet, zu nennen ist vor allem Sven Scholz. (Sven wird in einigen Nachschlagewerken im Internet und auf „totem Baum” als „Gründer des Rabenclans” genannt – was ich auf das Klischee zurück führe, dass eine „Religionsgemeinschaft” immer einen „Gründer” und eine „Leitfigur” bzw. einen „Guru” brauchen würde.) Erstaunlich viele Außenstehende begriffen gar nicht, dass der „Rabenclan” gar keine Religionsgemeinschaft war und in der Tat eine „weite Ökomene” zwischen Wiccas, freifliegenden Hexen, keltisch-, germanisch-, slawisch- und hellenistisch orientierten Heiden, und Neoschamanen (und einigen Richtungen mehr) bildete.
Weil auf einer so allgemeinen Grundlage kaum spirituell und rituell gearbeitet werden konnte, organisierten sich die damals so genannten Traditionen im Rabenclan. Eine dieser „Traditionen” waren die „Ásatrú im Rabenclan”, die zu Beltaine 1995 das „Hrafnsgaldr Fylki” als Thinggemeinschaft gründeten. Sie verzichte von Anfang an auf die in Hexen- und Heidenkreise beliebte (im Zweifel eh herbeifantasierte) „tausendjährige Tradition” und vermied es, eine Art „spirituell überhöhtes Germanen-Reeanctment” zu betreiben. Und sie war von Anfang an politisch – nach innen, durch das soziale Experiment einer Konsenzdemokratie, und nach außen, durch Aufklärungsarbeit über rechtsextreme oder rassistische Einflüsse auf die „Heidenszene”. Für diese Aufklärungarbeit gründete sich das „Ariosophieprojekt der Nornirs Ætt”, aus dem Jahre später „Odins Auge” hervorging.

Neben den alten „deutschen” Problemen mit auf „germanisch” bzw. „nordisch” machenden NS-Nostalgikern und den geistiger Erben der Ariosophie traten im Laufe der Jahre neue Probleme, die vor allem von einigen US-amerikanischen „Heathens” ausgingen. Stephen McNallen erfand mit seiner „Metagenetik” eine äußerlich modernisierte Version des schlechten alten „Blut und Boden”-Rassismus – und ausgerechnet er war Mitbegründer der „Ásatrú Free Assembly”. Der Streit zwischen dem „völkischen Asatru” (Asatru kann nur von Menschen nordeuropäischer Abstammung gelebt werden) und dem „universalistischen Asatru” (so nennen die „völkischen Asatru” die nicht-rassistischen Asatru-Richtungen) führte 1986 zur Spaltung. Nicht-rassistische, nicht völkische Asatru gründeten „The Troth”, die völkischen, teilweise rassistisch Gesinnten die „Ásatrú Alliance (AA)”. McNallen gründete 1994 eine „Ásatrú Folk Assembly” als völkisch orientierte Asatru-Organisation.
Auch wenn der Streit zwischen „Universalists” und „Folkish” in Deutschland im Grunde bedeutungslos ist, und hier eher das Problem der politischen Position und der Abgrenzung gegen „Braunheiden” im Vordergrund steht, findet McNallens „moderner” Rassismus viel Zuspruch bei eher nationalistisch gesonnenen Heiden.
Ein weiterer völkisch orientierter Asatru-Verband ist der britische „Odinic Rite”, dessen deutscher Ableger „Odinic Rite Deutschland e. V.“ (ORD) ebenfalls 1995 gegründet wurde. Der ORD distanzierte sich zunächst vorsichtig, dann deutlicher, von der rassistischen Linie des Odinic Rite, und benannte sich schließlich 2006 in Verein für Germanisches Heidentum e. V. (VfGH) um. Er versteht sich als „unpolitisch”, was durchaus auch „offen nach rechts, weil die politische Gesinnung nicht beachtet wird” bedeuten kann.

Auch nachdem 1997 die „Ásatrú im Rabenclan” eine eigenständige, vom Verein unabhängige, Struktur aufgebaut hatte, blieb er mit diesem (lange Zeit basisdemokratischen Grundsätzen folgenden) Verein eng verflochten. Das endete mit dem (zeitweiligen) Abgleiten des Rabenclans in eine inhaltlich eher esoterisch-beliebige und organisatorisch eher intransparente Struktur ab dem Jahr 2003. 2005 beendet die Nornirs Ætt die Zusammenarbeit mit dem Rabenclan. Heute hat der Rabenclan längst nicht mehr die Bedeutung, die er die ersten zehn Jahre seines Bestehens hatte. Was erfreulicherweise auch daran liegt, dass es heute eine ganze Reihe demokratische Heidenvereine und -gruppen gibt, z. B. im Ásatrú-Bereich den 2000 gegründeten Eldaring e. V..

Sehr hilfreich ist, dass sich 2014 der isländische Àsatrúarfélagið klar gegen jegliche Vereinnahmung durch rassistische oder militaristische Strömungen stellte, namentlich gegen McNallens rassistische „Metagenetik”. „Die isländer” gelten nämlich gerade in eher völkisch orientierten Ásatrú-Kreisen als Autoritäten.

Von einer Vorherrschaft des „Armanenblocks” wie Anfang der 1990er kann heute keine Rede mehr sein -obwohl die alten, „völkisch neuheidnischen” Strukturen noch vorhanden sind. Aber es ist noch viel im Argen – und es muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, bis „germanische Heiden” nicht mehr geradezu routinemäßig in Nazi-Verdacht geraten.

MartinM

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