Vertrieb ein Vulkanausbruch die alten Götter aus Island?

26. März 2018 | Von | Kategorie: Wissenschaft

Forscher der Universität Cambridge vermuten, dass ein Vulkanausbruch ein Faktor dafür war, dass Menschen in Island den christlichen Glauben annahmen.

Die „Völuspá“ („Weissagung der Seherin“) gehört zu den bedeutendsten nordeuropäischen Gedichten des Mittelalters und zu den wichtigsten Quellen der nordischen Mythologie. Der Schlussteil des Gedichtes beschreibt drei Jahre heftiger Kämpfe („Brüder kämpfen gegen Brüder“) und anschließend drei Jahre Fimbulwinter, in dem die Welt in einen Mantel aus Schnee und Eis gehüllt ist. Diese Zeit der Katastrophen gipfelt im Ragnarök, der Endschlacht, bei der sich die Asen und ihre Verbündeten, angeführt von Odin, und die Riesen und ihre Verbündeten, angeführt von Loki, gegenseitig vernichten. Der Weltenbaum Yggdrasil und mit ihm die Erde verbrennt, die Erde versinkt ins Meer und die Welt kehrt zur vollständigen Finsternis zurück. Der Seherin zufolge wird sich jedoch eine neue Welt aus den Wellen erheben, und Baldr und sein unfreiwilliger Töter, Höðr, wieder zum Leben erwachen und über sie herrschen.
Wahrscheinlich entstand das Gedicht um das Jahr 960.

Clive Oppenheimer von der University of Cambridge und sein Team schrieben im Journal „Climatic Change“, dass sie im Ausbruch des isländischen Vulkans Eldgjá um 939 den historischen Kern der „Weltuntergangs“-Zeilen gefunden hätten, und warum diese Naturkatastrophe zur Ablösung der alten heidnischen Götter beigetragen hätte. In einem interdisziplinären Ansatz glichen sie Eisbohrkern- und Baumringdaten mit historischen Aufzeichnungen ab.

Die Untersuchungen des Teams um Oppenheimer ergaben, dass im Jahr 939 u. Z., wahrscheinlich Frühjahr, eine zum Katla-Vulkansystem gehörende Spalte namens Eldgjá aufriss, aus der bis in den Herbst 940 gewaltige Lavamassen strömten. Bisher war der exakte Beginn des Ausbruchs nicht bekannt gewesen. Nach Angaben der Wissenschaftler hätte das Volumen ausgereicht, um England knöchelhoch mit Gesteinsschmelze zu bedecken. Damit fällt der Ausbruch in die Zeit unmittelbar nach der erste Besiedlungswelle, die Island zwischen 870 und 930 u. Z. erreichte. Historische Aufzeichnungen der frühen Siedler gibt es nicht, und die Völuspá enthält, wie die viel später verfassten Sagas über die Zeit der Landnahme, keine Jahreszahlen.

Neben Lava stieß die Spalte auch enorme Mengen an Schwefelverbindungen und Asche aus. Die winzigen Partikel in der Hochatmosphäre führten nicht nur zu spektakulären farbenprächtigen Sonnenuntergängen, von denen Chroniken in Irland, Deutschland und Italien berichten, sondern auch dazu, dass 940 in vielen Teilen der Nordhalbkugel sozusagen der Sommer ausfiel. Laut Baumringdaten gehörte er zu den kühlsten Sommern der letzten 1500 Jahre. An vielen untersuchten Orten lag die Temperatur um durchschnittlich zwei Grad Celsius kühler aus als normal. Das hatte Missernten und Hungersnöten unter anderem in Mitteleuropa, dem Mittleren Osten und China zu Folge.

Da die „Völuspá“ etwa um 960 entstand, wurde sie sehr wahrscheinlich von Augenzeugenberichten überlebender Siedler beeinflusst. Immerhin hatten sie die wohl größte Eruption auf Island mitbekommen, die es seit der Besiedlung bis heute gegeben hat.

Das Team aus Geowissenschaftlern und Historikern leitet aus der „Völuspá“ ab, dass dieses Ereignis die gesamte Gesellschaft in Island umgewälzt hätte. Sie folgen dabei einer Interpretation, der zufolge das Gedicht das Ende der heidnischen Religion und ihrer zahlreichen Götter beschriebe. Dann käme ein neuer Glaube auf, der nur einen einzigen Gott akzeptierte – das Christentum, das sich damals auch in Nordeuropa ausbreitete und durch die Katastrophe einen großen Schub erhielte. Bis zum Jahr 1000 hätte es sich dann in der isländischen Gesellschaft praktisch komplett durchgesetzt.

Die Hypothese des Cambridger Teams, dass der Vulkanausbruch entscheidend zur Christianisierung Island beitrug, ist der „Aufhänger“ der Pressemeldung der Universität Cambridge: Volcanic eruption influenced Iceland’s conversion to Christianity.

In der Presse wird diese Hypothese weiter zugespitzt, z. B. hier:
Vulkanausbruch vertreibt die alten Götter der Wikinger (Stuttgarter Nachrichten)
oder hier:
Warum Island christlich wurde (Spektrum.de)“

Kommentar:
Die im Kern der Berichterstattung stehende Hypothese, dass die „Völuspá“ vom Ausbruch der Eldgjá beeinflusst wurde, und dass diese Katastrophe ein entscheidender Faktor bei der Christianisierung Islands gewesem wäre, ist, soweit ich es beurteilen kann, im Gegensatz zur übrigen Arbeit des Teams um Oppenheimer, weitgehend Spekulation.

Erst einmal sind „Weltuntergangsvorstellungen“, die denen in der „Völuspá“ ähneln, im gesamten indoeuropäischen Raum heimisch. Diesen „Weltenbränden“ liegt ein zyklisches Weltbild zugrunde – nach Ragnarök folgt ein Neubeginn, ein neuer Lebenszyklus der Erde, und nicht etwa ein ewiges goldenes Zeitalter oder „das Reich Gottes auf Erden“.

Auch wenn die Natur Islands mit ihren Vulkanausbrüchen und harten, langen Wintern unübersehbar ihre Spuren in der „Völuspá“ und anderen Mythen und Sagen hinterlassen hat, und eine Katastrophe vom Ausmaß des Eldgjá-Ausbruchs wahrscheinlich seinen Niederschlag in diesem auf mündlicher Überlieferung beruhendem Gedicht fand: Bei einem genaueren Blick auf den Text der „Völuspá“ zeigen sich Schwächen der Hypothese.
Zuerst einmal stimmt die Reihenfolge der Ereignisse in der „Völuspá“ nicht mit der während der Katastrophe überein. In der Dichtung kommt zuerst der allgemeine Krieg jeder gegen jeden, dann der drei Jahre dauernde Winter, dann der Untergang der Welt in Flammen und Wassermassen. Beim historischen Ereignis folgte auf „Feuer“ (und mutmaßlich „Wasser“ durch Gletscherschmelze) der „Dauerwinter“, auf den dann (für Kontinentaleuropa belegt, für Island denkbar) Hungersnöte und unter Umständen damit verbunden Aufstände folgten. Der Mythos erzählt also keine historischen Ereignisse nach.

Dann herrscht auf der erneuerten Erde nach dem Tod der alten Götter kein ein einzelner Gott, sondern es werden ausdrücklich die (überlebenden) Asen erwähnt. Auch herrscht der „auferstandene“ Baldr nicht allein, sondern zusammen mit seinem ebenfalls wieder zum Leben erwachten Bruder Höðr. Selbst wenn einige christliche Vorstellungen ins Gedicht eingegangen sein sollten, ist es im Kern heidnisch.

Wie Island christlich wurde, ist einigermaßen gut belegt. Im Jahr 1000 wurde auf dem Althing in Þingvellir der Beschluss gefasst, der das Christentum zur Staatsreligion erklärte, neben der die heidnischen Götter aber zunächst weiter verehrt werden durften. Das spricht nicht gerade für ein Ende der heidnischen Religion nach der Vulkankatastrophe um 940. Dem Beschluss vorangegangen waren Spannungen in den sehr wichtigen Handelsbeziehungen zu Norwegen. Dies lag unter anderem daran, dass der norwegische Herrscher Ólafr Tryggvason schon zum Christentum bekehrt war. Und dieser bestand – unter anderem aus machtpolitischen Gründen – auch auf einer Christianisierung Islands.

Martin Marheinecke, März 2018

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  1. Und es besteht auch Grund zur Annahme, dass die Annahme des christlichen Gottesbildes seine Vorbereitung durch „Odinismus“ gefunden hat. Lesetipp:

    Joshua Rood, „Die Stufen zu Hliðskjálf hinaufschreiten: Der Odin-Kult in der frühen skandinavischen Aristokratie“ (Original: Ascending the Steps to Hliðskjálf: The Cult of Óðinn in Early Scandinavian Aristocracy“)

    „Diese These ist eine Studie über den Kult von Odin, wie er sich in der neu entstehenden kriegerischen Aristokratie in Südskandinavien in den Jahrhunderten vor der Wikingerzeit entwickelt zu haben scheint. Indem er sich kritisch mit Quellen auseinandersetzt und sich auf archäologische Beweise konzentriert, geht es speziell darum, wie sich die Gottheit innerhalb des besagten Milieus entwickelte und darauf, wie die Verwendung seines Kults denjenigen, die ihn verehrten, gedient haben könnte. Anschließend versucht sie, andere verwandte Fragen zu behandeln, wie zum Beispiel, wie Odin in Skandinavien mit Kriegerkönigen in Verbindung gebracht wurde, wo dies stattgefunden hat und wie es geschehen konnte, einschließlich einer Untersuchung der an der Entwicklung beteiligen möglichen sozialen und politischen Einflüsse. Mit diesem Prozess versucht die Studie kontextbezogene Einblicke in die Beziehung zwischen Herrschern und Religion im vorchristlichen Südskandinavien zu geben. Es ist bekannt, dass die späteren mittelalterlichen literarischen Quellen oft Odin als den ultimativen Souverän darstellen, der über andere Götter und irdische Herrscher gleichermaßen herrscht. Diese Arbeit versucht, etwas neues Licht auf die Jahrhunderte vor diesen Berichten zu werfen, indem sie ein Modell einer früheren Manifestation des Gottes, der „alfǫðr“ werden sollte, anbietet.“

    eine komplette, einfache Übersetzung der Master-Arbeit liegt vor. Weitere Lesetipps gebe ich gern – Stefan Brink über Ortsnamen und Terry Gunnel über den Religionswechsel und die Bedeutung von Folklore.

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