Ursachen der Wikingerzeit: mehr als Beutegier

4. August 2015 | Von | Kategorie: Wissenschaft

Die Überfälle auf Klöster wie Lindisfarne und Iona waren das negativ herausragende Ergebnis der wachsenden seefahrerischen Fähigkeiten der Skandinavier in den letzten Jahren des achten Jahrhunderts.
Diese Auseinandersetzungen zogen militärische Angriffe, Besiedlung und schließlich die Eroberung großer Teile der britischen Inseln nach sich.

Bisher wurden in der Forschung Einflüsse aus Umwelt, Demografie, Technik und Politik untersucht, sowie die zunehmende Gier nach Silber und Sklaven, und warum diese Formen des Reichtums in dieser Epoche wichtig wurden.

Dr. Steve Ashby von der archäologischen Fakultät der Universität York untersucht die sozialen Gründe für diesen Agressionsausbruch. Ashby versuchte, herauszufinden, warum ein junger Häuptling so viel Zeit und Mittel für solch ein Wagnis aufwendete, und was die Beweggründe seiner Mannschaft waren.

In seinen in Archaeological Dialogues veröffentlichten Untersuchungen behauptet Dr. Ashby, dass der Blick auf die Beute der Raubzüge die Hälfte des Bildes ignorieren würde. Die Belohnung für solche Reisen wäre viel mehr als nur Reichtum gewesen. Dr. Ashby zufolge wäre der der Reiz des Exotischen, der Welt hinter dem Horizont, ein wichtiger Faktor gewesen. Die klassische Anthropologie hätte gezeigt, dass die Mystik des Exotischen eine mächtige Kraft sei, und etwas, was politische Führer und einflussreiche Menschen ausgenutzt hätten, um ihre Machtbasis zu vergrößern. Es sei nicht schwer, zu erkennen, wie das in der Wikingerzeit funktioniert hätte.

Es wurde ja nicht einfach Silber erbeutet. Die markanten angelsächsischen, fränkischen und keltischen Metallarbeiten waren greifbare Erinnerungsstücke an erfolgreiche Abenteuer, Symbole für Status und Macht, sowie Werbung für künftige Überfälle. Viele der christlichen Fundstücke im vorchristlichen skandinavischen Raum, vor allem in heidnischen Gräbern in Norwegen, entkamen dem Schmelztiegel und der Wiederverwertung nicht wegen irgendeiner Form der künstlerischen Wertschätzung, sondern weil sie Zeichen der Macht und Argumente für weitere Kriegshandlungen gewesen seien.

Auch die Krieger wären nicht einfach blind ihrem Führer gefolgt. Ein Raubzug wäre nicht nur eine Gelegenheit gewesen, reich zu werden, sondern auch ein Rahmen, in dem sich Männer gegenüber ihren Kollegen und Vorgesetzten auszeichnen konnten. Sie konnten ihr Können, ihre Zuverlässigkeit, ihre List oder ihren Mut beweisen und Ruhm erwerben. Genau so wie die Anführer der Stoßtrupps mehr als nur materiellen Reichtum erlangt hätten, so hätte auch ihre Gefolgschaft immaterielles Sozialkapital aus den Überfällen geschlagen.

Nicht allein die Beute hätte zu Raubzügen verlockt, sondern Macht und Ansehen durch außergewöhnliche Reisen und Taten. Dies wäre eine wichtige Korrektur der Modelle, die sich auf die Erbeutung von Reichtum konzentrieren. „Der Akt des Erwerbs des Silber war so wichtig wie das Silber selbst“, meint Dr. Ashby.

Archaeology news network: New research on the causes of the Viking Age
University of York

Kommentar: Es erstaunt mich etwas, dass diese „sozialen“ Motive für die Wikingerraubzüge anscheinend in der Forschung gegenüber den „materiellen“ Motiven wenige beachtet werden. Schließlich ist das Motiv „Macht und Ansehen durch Tatenruhm“ in der Heldendichtung und den isländischen Sagas deutlich wichtiger als das bloße Streben nach Reichtum. Auch reine Abenteuerlust und Neugier auf fremde Länder spielen in der Dichtung eine große Rolle. Anderseits ist gerade die Frühmittelalterforschung aus gutem Grund skeptisch gegenüber Überlieferungen, die oft erst Jahrhunderte nach den Ereignissen aufgeschrieben wurden und die Motive und Mentalität der Wikinger heroisch überhöhten und sozusagen veredelten: Ein „Held“ einer Erzählung, selbst wenn er als ein düsterer, bösartiger Charakter geschildert wird, wäre als einfacher habgieriger Krimineller wenig reizvoll.

Hinzu kommen meiner Ansicht die in unserer Zeit vorherrschenden Denkstrukturen bzw. Paradigmen im Sinne Thomas S. Kuhns. Die Forschung ist, wie übrigens auch das politische Denken, deutlich vom „ökonomischen Determinismus“ geprägt. Vereinfacht: Alles menschliche Handeln hätte letzten Endes wirtschaftliche Ursachen, alles andere wäre, kapitalistisch gesprochen „Beiwerk“ oder, marxistisch, „Überbau“.
In der Archäologie kommt hinzu, dass sich abstrakte kulturelle Faktoren nicht unmittelbar an den Fundstücken ablesen lassen.

MartinM

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