Ureinwohner? Das gemischte genetische Erbe der Europäer

20. September 2014 | Von | Kategorie: Wissenschaft

Bis vor einigen Jahren war die Welt jener Europäer, die stolz daran glaubten, echte Nachkommen der „Ureuropäer“ zu sein, noch in Ordnung.
Neuere Erkenntnisse zeigten dann, dass der Ackerbau und die Viehhaltung nicht etwa von den „ureuropäischen“ Wildbeutern erfunden wurden, sondern dass die Landwirtschaft vor rund 11.000 Jahren in südlichen Westasien, wahrscheinlich in Südostanatolien, entstand. Vor über 7.500 brachten Einwanderer ihre Tieren, ihre Getreidekörnern und ihre typisch Keramik – nach der sie Archäologen als Linearbandkeramiker bekannt sind – nach Mitteleuropa. Wildformen von Schaf und Ziege gab es in Europa nicht, und selbst die Rinder und Schweine, die heutzutage in Europa gehalten werden, haben überwiegend „vorderasiatische“ Vorfahren.
Lange Zeit war umstritten, ob die Landwirtschaft durch eine „Masseneinwanderung“ nach Europa kam, oder von den „Ureinwohnern“ die neuen Kulturtechniken von benachbarten Volksgruppen übernommen wurden. Neuere genetische Analysen zeigten, dass wohl Beides zutraf.
Ein internationales Forscherteam unter der Leitung der Universität Tübingen und der Harvard Medical School untersuchte diese Frage anhand prähistorischer und moderner Genome.
Das durchaus überraschende Ergebnis der Analyse ist, dass die genetischen Spuren heutiger Europäer auf drei – und nicht wie bisher angenommen zwei – Stammgruppen zurückgehen.

Für Einzelheiten verweise ich, vor allem angesicht der manchmal fragwürdigen Berichterstattung der On- und Offline-Presse, auf die Pressemeldung der Eberhard Karls Universität Tübingen zu diesem Thema und auf den guten, weiterführende Fakten enthaltenden, Artikel von Andrea Naica-Loebell auf „telepolis“: Genetische Mixtur
Wer tiefer in die Materie einsteigen möchte, kann die originale Publikation der umfangreichen Studie in „Nature“ für € 30 erwerben: Ancient human genomes suggest three ancestral populations for present-day Europeans.

Kurz gefasst: Die erste Gruppe umfasst die ursprünglichen Jäger und Sammler Westeuropas; die zweite bilden die frühen Bauern, die vor etwa 7.500 Jahren nach Europa einwanderten, und die dritte Gruppe ist die danach eingewanderte Population, die den Norden Eurasiens bevölkerte.
Zu einigen „sensationellen“ Schlagzeilen führte der Umstand, dass diese nord-eurasische Gruppe die modernen Europäer mit den Ureinwohnern Amerikas genetisch verbindet.
Bei Licht besehen ist das weniger sensationell, als es klingt: Es gab ja nicht nur eine, sondern mehrere Einwanderungswelle auf den amerikanischen Doppelkontinent, und eine dieser aus Sibirien eingewanderten Populationen hatte Vorfahren, die mit den Vorfahren jener dritten nach Europa eingewanderten Population verwandt waren.
Fast alle Europäer haben Vorfahren aus allen drei Abstammungsgruppen. Unterschiede gibt es bei den relativen Anteilen. Nordeuropäer tragen mehr Gene der Jäger und Sammler in sich – Menschen in Litauen bis zu 50 Prozent – und Südeuropäer mehr der Bauern. Die bisher rätselhafte dritte Gruppe hat überall in Europa den kleinste Anteil, der nie mehr als 20 Prozent ausmacht, aber in fast jeder untersuchten europäischen Gruppe gefunden wurde, auch in Populationen aus dem Kaukasus und dem südlichen Westasien.

Die Forscher analysierten auch Gene, von denen der Einfluss auf das Aussehen bekannt ist; mit interessanten, den gängigen Klischees nicht entsprechenden, Ergebnissen.
Sie gehen davon aus, dass einige der Jäger und Sammler blaue Augen und eine dunkle Haut hatten, während die frühen Bauern hellhäutiger und eher braunäugig waren.

Sowohl die Jäger und Sammler als auch die frühen Bauern trugen eine hohe Anzahl an Kopien des Amylase-Gens in ihrem Genom, sodass anzunehmen ist, dass beide Populationen sich bereits an eine stärkereiche Ernährung angepasst hatten.
Das könnte bedeuten, dass auch die „Jäger und Sammler“ „Ureuropas“ nur zu geringem Teil von der Jagd lebten.
Dagegen konnte keiner der frühen Menschen Milchzucker verdauen, Milch gehörte daher wahrscheinlich noch nicht zu den gängigen Nahrungsmitteln. Dass unterstützt die Theorie, dass die Fähigkeit mancher Menschen, auch als Erwachsene problemlos Milchzucker verdauen zu können, auf Mutationen zurückgehen, die nur in bereits Vieh haltenden Bevölkerungsgruppen einen Überlebensvorteil brachten und sich daher ausbreiten konnten. Das werden eher Hirtennomanden als Bauern gewesen sein, denn nur für Hirten kann die Fähigkeit, Milch in großen Mengen verdauen zu können, überlebenswichtig sein; für Getreidebauern hingegen nicht. Eindeutig lässt sich sagen, dass die Milchzuckerverträglichkeit sich mehrmals unabhängig voneinander entwickelte, jeweils immer bei Hirtenvölkern.

Für die Anhänger der aus dem 19. Jahrhundert stammenden „Rassetheorien“, vor allem jene „völkischen“ Fans eines „nordisch-germanischen Urvolkes“ bzw. der „arischen Rasse“ – Merkmale: hochgewachsen, dabei breitschultrig, langer Schädel, blaue Augen, blonde Haare, sehr helle Haut – sollten diese Erkenntnisse ein heilsamer Schock sein.
Diese „typischen Nordländer“ gibt es zwar, sie verdanken ihre „typischen Merkmale“ aber einer, um in ihrem rassistisch gefärbten Jargon zu bleiben „Rassemischung“: Die helle Haut ausgerechnet Einwanderern aus dem „vorderen Orient“, und die blauen Augen Vorfahren, die eine eher bräunliche Haut hatten. Schon länger bekannt ist, dass der „athletische“ Typus des „typischen Nordeuropäers“ erst in relativ junger Zeit durch die Vermischungen einer überwiegend breit-gedrungenen und einer überwiegend langgliedrig-langschädligen Population entstand, wobei die „nordischen Langschädel“ die Einwanderer waren. Auch die Milchverträglichkeit, die manche Rassenquassler als Beleg ihrer Abstammung von „milchtrinkenden Ureuropäern“ ansehen, stammt nicht von den „bodenständigen Bauernvölkern“, sondern wahrscheinlich von „irgendwelchen Hirtennomaden aus der Steppe“. Und über die dritte Vorfahrengruppe sind die „rasserreinen“ „Weißen“ sogar mit den „gelben“ Ostasiaten und den „Rothäuten“ verwandt – wobei ausgrechnet im Norden der Anteil der Nord-Eurasier besonders groß ist.

Leider sind Rassisten und ganz besonders „völkische“ Blut- und Boden-Fans einigermaßen resistent gegen störende Tatsachen …

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Ein Kommentar
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  1. Da sieht man mal wieder: wir sind _alle_ Kinder der Götter, egal wo einer geboren wird. Das schönste ist, dass es ja _nie_ sogenannte Arier gab, das ist ja nachgewiesenermaßen eine Erfindung von Rassisten. Es freut mich, dass man heutzutage mit Sicherheit sagen kann, dass diese einst so gelobten Rassenmerkmale auf die gute Mischung zurückzuführen ist, wie im Artikel sehr schön dargelegt.
    Mögen die Götter euch segnen!

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