Symbolische Probleme

31. Januar 2012 | Von | Kategorie: Odins Auge Artikel, Ætt Feature

Wichtiger Hinweis: Es gibt einen neueren Artikel, in dem ich meine damalige Ansicht, der ACTA-Krake sei nicht antisemitisch, revidiere: Der „ACTA-Krake“ -problematischer als gedacht.

Aus dokumentarischen Gründen lasse ich den Text in der Fassung von 2012 stehen.

Martin Marheinecke, Mai 2018.

Aus aktuellem Anlass rückt eine Karikatur zu ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement) wieder in den Brennpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, die etwas mit dem Thorshammer und der Triskele gemeinsam hat: sie steht unter „Nazi-Verdacht“.

Für ihre Stopp-Acta-Kampagne verwenden Piratenparteien verschiedener Länder das Motiv eines Kraken, der den Erdball mit seinen Tentakeln umschlingt.
Stopp-Acta-Krake
Ja, es heißt tatsächlich der Krake – jedenfalls im Duden …

Die Bildkomposition sei faktisch identisch mit einer Darstellung aus dem Jahr 1938, die in der antisemitischen Wochenzeitung “Der Stürmer” publiziert wurde, schreibt Robert Hampicke 2010 auf „Publikarive“ Die Fallhöhe der Krake
Der Krake der Piratenpartei sei extrem erklärungsbedürftig, denn er sei – ohne den entsprechenden Kontext – nicht als Daten-Krake erkennbar. Dabei betont Hampicke den Kontext, in dem der Krake steht, die der politischen Agitation, und für die gelten strenge Maßstäbe:

Während die Karikatur in der Zeitung ohne schlechtes Gewissen überspitzen darf, verfolgt sie eben kein direktes politisches Ziel, ist die “Fallhöhe” der Karikatur in der politischen Agitation unweit höher.

Nun ist der Datenkrake ein so geläufiger Begriff und der Krake, der die Welt aussaugt, ein schon lange vor der Nazi-Zeit geläufiges Motiv der Karikatur (Octopus in Propaganda and Political Cartoons), dass die Verbindung zwischen „ACTA-Kraken“ und Antisemitismus doch sehr an den Haaren herbeigezogen wirkt. An sich ist das Kraken-Motiv nicht anti-semitisch, da es als Metapher für so unterschiedliche Organisationen (von Scientology bis zu Großkonzernen), so unterschiedliche Ideologien (vom Kolonialismus bis zum Kommunismus) und so unterschiedliche Regierungen (praktisch alle) verwendet wurde, dass der Krake im Allgemeinen nicht antisemitisch konnotiert ist. Anderseits gibt es tatsächlich antisemitische Kraken-Karrikaturen. Selbst wenn der Krake keine jüdischen Symbole trägt oder anders als jüdisch gekennzeichnet ist, ist ein Krake, der als Metapher der jüdischen Weltverschwörung erkennbar ist, eindeutig antisemitisch.
Es kann vom Kontext, in dem eine Karikatur steht, abhängen, ob sie antisemitisch ist oder nicht!
Der Kontext der „Stopp Acta“-Kampagne ist allerdings eindeutig nicht antisemitisch.

Der Krake mit der Erde ist aber, anders als ein Thorshammer, kein Symbol.
Zu einem Symbol wird ein Zeichen dann, wenn sich über den reinen Bildgegenstand hinaus weitere Inhalte mit ihm verknüpfen. Ein Symbol steht für einen Begriff, wobei gleich aussehende Zeichen völlig unterschiedlichen Symbolgehalt haben können – z. B. die indische Swastika, das alteuropäische Sonnenrad und das Hakenkreuz der Nazis. (Ja, das sind unterschiedliche Symbole, auch wenn sie gleich aussehen mögen!)
Die Doppelaxt ist ein Symbol des Feminismus, ein altkretisches Symbol mit heute nicht mehr eindeutig zu rekonstruierender Bedeutung – und ein Symbol der griechischen Faschisten. Dennoch käme in Deutschland kaum jemand auf die Idee, eine Frau mit einem Doppelaxt-Anhänger für eine Faschistin zu halten. Hingegen muss bei einem Hakenkreuz-Anhänger im deutschen Kontext davon ausgegangen werden, dass er in der Tat das Nazi-Symbol ist.

Ein sehr großes praktisches Problem mit Symbolen besteht darin, dass solche Mehrdeutigkeiten entweder nicht bekannt sind oder einfach ignoriert werden.
Eindeutigkeit ist eben bequem, und wenn man die in unserer Kultur tief verwurzelte Neigung zum Denken in sich ausschließenden Gegensätzen hinzurechnet, ist es eigentlich nicht weiter erstaunlich, dass die Nazi-Symbolik jede andere Bedeutung eines Zeichens erdrückt.

Es gibt aber auch einen ernstzunehmenderen, tieferen Grund, weshalb es so schwierig ist, Zeichen, die einmal in der Nazisymbolik missbraucht wurden, als etwa anderes zu sehen.
Anders als viele ihrer Gegner kennen alte und neue Nazis die Kraft von Symbolen. Auf einer rationalen, argumentativen Ebene wären die geradezu wahnhaften Rache-, Rassen- und Überlegenheitsideen nicht zu vermitteln – daher funktioniert Nazipropaganda auf der Gefühlsebene und auf der Ebene eines geradezu religiösen Glaubens. (Deshalb sind überzeugte Nazis so immun gegen Argumente wie sonst nur besonders fanatische religiöse Fundamentalisten. Und wie religiöse Fundis denken Nazis ganz extrem in Gegensätzen, schwarz-weiß, ohne Graustufen und Übergänge, und wähnen sich im alleinigen Besitz der Wahrheit. Sie sehen sich immer und grundsätzlich als die wahren, ordentlichen Deutschen.)
Nazi-Symbole sind die „heiligen Symbole“ einer Polit-Religion.
Der – meiner Ansicht nach einzige! – Sinn der Verbote und Einschränkungen nationalsozialistischer Symbole
liegt darin, ihnen die „offizielle Erlaubnis“, die die schwarz-weiß denkenden Nazis als „offizielle Anerkennung“ sehen würden, zu verwehren. Indem das Hakenkreuz und die SS-Runen verboten sind, zeigt der deutsche Staat den Nazis, dass er sie als Gegner betrachtet.
Ein Schema, das allerdings nicht beliebig, im Sinne einer falsch verstandenen „Null-Toleranz“, auf alle Zeichen, die alte und neue Nazis symbolisch besetzt haben, ausgeweitet werden kann.
Eine bekannte Nazi-Taktik besteht darin, möglichst viele Symbole zu besetzen, so, wie sie alles Mögliche, was ihnen gefällt, in ihre Patchwork-Ideologie einbauen und missbrauchen, vorzugsweise Kulturgüter, deren Schöpfer sich nicht mehr wehren können.
Die meisten Symbole die in den Aufklärungsbroschüre oder auch bei uns als Nazi-Symbole gelistet sind, sind ohnehin Ersatzsymbole für verbotene Symbole – etwa das Keltenkreuz als Ersatz für das verbotene Hakenkreuz. Die Nazis juckt das Verbot eines Ersatzsymboles (genauer: eines Zeichens, dass auf ein verbotenes Symbol verweist) wenig, sie greifen einfach auf das Nächste zurück – es ist ja nur ein Code, der für ein „heiliges Symbol“, das nicht gezeigt werden darf, steht. Sehr deutlich ist das bei der Reichskriegsflagge aus dem Kaiserreich, die als Platzhalter für die verbotene Hakenkreuz-Kriegsflagge aus dem Nazireich steht.
Leider dienen auch Triskelen, Thorshämmer, alle möglichen Runen usw. als Platzhalter für NS-Symbole.
Daher ist es auch so wichtig, darüber aufzuklären, dass nicht alles, was wie ein Nazi-Symbol aussieht, (geschweige denn alles, was eventuell ein Nazi-Symbol sein könnte) auch ein Nazi-Symbol ist.

Was würde z. B. geschehen, wenn z. B. die Verwendung des Hakenkreuzes in Deutschland ohne Einschränkung erlaubt würde – wie es z. B. in den USA der Fall ist?
Mit einiger Sicherheit kann gesagt werden, dass die Nazis das als gewaltigen Sieg, als Ermutigung sehen würden, und als ersehnte Anerkennung durch den Staat (denn autoritäre Persönlichkeiten sind obrigkeitsfixiert, sogar dann, wenn sie die jeweilige „Obrigkeit“ ablehnen). Sehr wahrscheinlich würde eine „Hakenkreuz-Freigabe“ indirekt Menschenleben kosten.

Erst wenn das Sonnenrad wieder weiß ist, kann man überhaupt daran denken, die Verbote nach § 86b StGB aufzuheben!

Der Krake ist dagegen ist eher mit „Paulchen Panther“ zu vergleichen. Nazi-Terroristen der „NSU“ benutzten ihn in einem Propaganda-Video, in dem sich sich ihrer feigen Mordtaten rühmten. Seitdem gibt es Nazis, die diese Comic-Figur oder auch die „Pink Panther“ Melodie als Zeichen verwenden.
Offensichtlich wäre es dennoch absurd, den rosaroten Panther als „Nazi-Code“ zu bezeichnen, oder anzunehmen, dass jemand mit einem „Paulchen Panther“-T-Shirt ein Neonazi wäre.

Zum Abschluss etwas Musik:

Der Song wurde von Chrstiopher Schirner und Karan von den Singvøgeln zusammen produziert. Das Lied ist unter der CC-BY-NC-SA lizenziert.
Bei Weiterverwendung bitte die Autoren
Christopher Schirner (http://twitter.com/Beerweasledev)
und Karan (http://www.singvoegel.com) angeben!

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7 Kommentare
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  1. Also, ich empfinde dieses Krakenbild schon als daneben. Wobei du schon recht hast mit der Argumentation, dass das Krakenbild an sich nicht in jedem Kontext antisemitisch ist. Ich würde in Deutschland halt einfach ein anderes Bild wählen. Denn ich lege keinerlei Wert auf das „Besitzenkönnen“ der Krakenkarikatur, ich muss das nicht von irgendwelchen Nazis „reclaimen“ – manchmal gibts Dinge, die sind einfach zu unwichtig, um sie zurückzufordern. Anders ausgedrückt: Wenn man zur Zeit mit einem Paulchen Panther Pullover auf eine Antifa Demo ginge, wäre das sehr daneben und geschmacklos, und ich sehe keinen Grund, was daran zu ändern.
    Aus dem Grund haben sie auch „die perfekte Welle“ nicht im Radio gespielt, als der Tsunami damals in Thailand und Sri Lanka usw. war. Obwohl klar ist, dass diese Band das Lied natürlich nicht als Tsunamiopfer-Verhöhnung geschrieben hat, näch. Der Punkt ist: es gibt Sachen, da kann man sagen: Ja, ok, das war ein geschmackloser Griff ins Klo. Wir lassen’s einfach. Auch wenn wir durchaus im Recht damit wären.

  2. Wahrscheinlich ist der Kampfroboter von
    La Quadrature du Net die geeignetere Karikatur:
    acta-eu-950

  3. Nur als Anmerkung zur individuellen Semantik.
    Mein erster Gedanke war: „Es ist grün, es ist riesig, es hat Tentakel. Alles klar: Cthulhu!“
    So verschoben können die Wahrnehmungen in einer multimedialen Gesellschaft sein…

  4. Kann ja sein, dass ich da was versehentlich ausblende, weil ich nicht in Deutschland lebe, aber als Aett-eigene Tentakelexpertin muss ich schon noch ein paar Worte anbringen, einfach weil ich mich täglich sehr viel mit solchen Dingen wie der (literarischen, intermedialen, kulturellen) Semantik des Oktopus (bzw. Tintenfisches oder Kraken) beschäftige.
    Der Oktopus als Metapher (i.e. vielschichtiger als eine Allegorie und nicht auf eine einzige Bedeutung hin auszulegen und festzumachen) ist wegen der Vielzahl an möglichen Assoziationen und Bedeutungen wie seine „Vorlage“ in der Natur ein Shapeshifter und daher bereits von Vertretern praktisch jeglicher Ideologie dazu verwendet worden, die jeweilige Gegenseite zu symbolisieren. (Vergleiche Erklärung von China Miéville hier im Audio-File: http://backdoorbroadcasting.net/2011/03/the-weird-a-discussion-of-fiction-and-politics-with-china-mieville/ sowie ideologische „Stoffsammlung“ zum Thema Oktopus hier: http://vulgararmy.com/ )
    Vor diesem Hintergrund hat er zwar mit Zeichen, die _auch_ von z.B. Nazis verwendet werden, aber eigentlich nix mit denen oder ihrem Gedankengut zu tun haben, was gemeinsam – aber ich kann zumindest aus der Weird-Fiction-Ecke sagen: Trotzdem ist das nicht die Bedeutung, mit der er primär assoziiert wird. Man kann ihn nicht auf eine Bedeutung reduzieren – gleichzeitig wird er von anderen Richtungen für andere Zwecke verwendet, für die er genauso funktioniert.
    A propos Cthulhu: Zwar kommen – weitläufig symbolisch mit dem Kraken verwandte – Tentakelmonster zunächst in ziemlich üblen Bedeutungsträger-Funktionen bei Lovecraft vor, und zwar als Ausdruck seiner Ängste vor Immigranten, Arbeitern, etc. und der damit Verbundenen, von ihm gefürchteten „Verunreinigung“ seiner komplett illusorischen gesellschaftlichen Elite (also genaugenommen eh genau derselbe gefährliche Rassenquassler-Blödsinn) – aber das wendet sich im Laufe der weiteren Entwicklung des Genres (bei M. John Harrison, China Miéville, Jeff Vandermeer, Lauren Beukes,…) in ganz andere Richtungen. Tentakelmonster sind zwar weiterhin politisch, aber können eben auch die umgekehrte Position vermitteln (hier sind nicht die Einwanderer die Monster – sondern Rassismus, Apartheid, Sexismus, etc.).

  5. (Oops, Martin, du hattest Vulgar Army eh schon drin. Sorry, hatte ich übersehen, unterstützt trotzdem nach wie vor mein Argument, das ich glaube, gemacht zu haben.)

  6. Der LQDN BattleMech ist auch strukturell Antisemitisch. habe ich gelernt. Weil etwas ähnliches… ach lassen wir das.

  7. […] In einem Artikel verteidigte ich damals diese Karikatur gegen den Vorwurf, sie sei antisemitisch („Symbolische Probleme“.) Später musste ich erkennen, dass der „ACTA-Krake“ zwar nicht antisemitisch gemeint, […]

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