Nachrichtenwert – oder: von Protesten und Hohepriestern

3. Oktober 2011 | Von | Kategorie: Gjallarhorn Weblog

Der bekannte Ausspruch eines unbekannten zynischen Journalisten (Zynismus ist eine weit verbreitete Berufskrankheit unter Journalisten) „nur eine schlechte Nachricht ist eine gute Nachricht“ bringt die Erfahrung auf den Punkt, dass Katastrophen, Kriege und Krisen unfehlbar das Interesse der „Medienkonsumenten“ finden – sei es aus echter Betroffenheit, sei es aus Angst, aus Angstlust oder auch aus bloßer Sensationsgier.
Allerdings glauben auch sonst nicht naive Zeitgenossen, dass der Satz von der schlechten Nachricht, die eine gute Nachricht sei, zwar uneingeschränkt für Boulevardmedien – „Revolverblätter“, „Dudelfunk“ und „Unterschicht-Verdummungs-TV“ usw. gelten würde – aber nicht doch für „Qualitätsmedien“, allen voran die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Vor allem nicht für das „Urgestein der sachlichen Berichterstattung“ in Deutschland, die „Tagesschau“!

Wann ist z. B. eine Großdemonstration im Ausland für die „Tagesschau“ wichtig? Wenn das Anliegen der Demonstranten auch uns in Deutschland unmittelbar betrifft? Wenn sie auf tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel hindeutet? Wenn sie in dem Land, in dem sie stattfindet, intensiv diskutiert wird? Oder wenn die Staatsmacht unangemessen brutal gegen die Demonstranten vorgeht?
Ginge es wirklich um solche Kriterien, dann hätte die „Tagesschau“ (und andere öffentlich-rechtliche Nachrichtensendungen) seit dem 17 September ziemlich ausführlich über die Demonstration von Occupy Wallstreet in New York berichtet.
Man kann nicht behaupten, dass „Occupy Wallstreet“ in deutschen Medien „kein Thema“ gewesen wäre – spätestens nach den ersten „harten“ Polizeieinsätzen befassten sich z. B. der „Spiegel“ und die „Süddeutsche Zeitung“ mit diesen Protesten – von „Online-Medien“ wie „Telepolis“ oder „Gulli“ gar nicht zu reden.
Für die „Tagesschau“ wurde „Occupy Walstreet“ offensichtlich erst dann interessant, als es „schlechte Nachrichten“ mit „Sensationswert“ gab: 700 Demonstranten wurden vorübergehend festgenommen. Sie hätten die „Brooklyn Bridge“, eine der wichtigsten Verkehrsadern New Yorks, blockiert. (Übrigens offenbar keine „Blockadeaktion“ der Demonstranten, sondern bestenfalls ein ungeschicktes Eingreifen der Polizei – gute Polizeitaktik wäre es gewesen, zu verhindern, dass Demonstranten auf die Fahrbahn gerieten – aber erst nachdem sich schon hunderte Demonstranten auf der Brücke befanden, seien sie von Polizeibeamten mit orangefarbenen Absperrnetzen eingekreist und festgenommen worden.) In dieser Hinsicht verhält sich das „Flaggschiff der ARD“, das Sinnbild des „Qualitätsjournalismus“, offensichtlich wie ein beliebiges Boulevardblatt oder kommerzieller „Dudelfunk“: nur „Zoffdemos“ sind interessant und damit relevant, verläuft alles friedlich, sind Demonstrationen (ungeachtet ihrer politischen Bedeutung) langweilig.

Ein anderes Thema stand in der zweiten Septemberwoche im Mittelpunkt sowohl der öffentlich-rechtlichen wie der privaten Medien – der Besuch des obersten Priesters einer Glaubensgemeinschaft, der nominell ca. 30% der deutschen Bevölkerung angehören. Offensichtlich ein bei Teilen eben dieser Bevölkerung verhasster Mensch, jedenfalls deuteten die enorm aufwendigen Sicherheitsmaßnahme darauf hin – nur für den israelischen Ministerpräsidenten, dem eingestandenermaßen meist gefährdeten Politiker der Erde, gab es bisher vergleichbaren Aufwand.

Nein, weitere Polemiken zum Papstbesuch erspare ich mir; das Einzige, was mich daran stört, ist tatsächlich der (meiner Ansicht nach) übertriebene, von Steuergeldern bezahlte, Sicherheitsaufwand, der auch noch die persönlichen Freiheiten der Menschen, die das Pech hatten, in der Nähe der vom Hohepriester besuchten Stätten zu wohnen oder zu arbeiten, empfindlich einschränkt. („Übertriebener Sicherheitsaufwand“ ist keine Polemik, man vergleiche einmal die martialischen Sicherheitsmaßnahme in Berlin mit den keineswegs unzulänglichen Sicherheitsmaßnahmen für den selben Mann im selben Amt beim „Weltjugendtag“ der katholischen Kirche 2005 in Köln.)
Was mir jetzt wichtig ist, ist der Stellenwert, den der Besuch J. Ratzingers, auch bekannt unter dem Künstlernamen Benedikt XVI., in den deutschen Medien einnahm. Sie ging weit über die übliche „Prominentenberichterstattung“, wie sie etwa bei Besuchen von Monarchen oder auch religiösen Führern wie dem Dalai Lama üblich sind, hinaus.
Wie es Arik Platzek vom Humanistischen Verband Deutschlands, so schön formulierte:

Herr Ratzinger ist ein absolutistischer Monarch eines kleinen Stadtviertels von Rom und kein demokratisch gewählter Staatsmann.

Obwohl der Titel der Sendung im mdr, in dem diese Worte fielen, Der Papst kommt – na und? eigentlich schon alles sagt, dauerte diese Sendung eine dreiviertel Stunde. Und sie war nicht die Einzige. Insgesamt war der Papstbesuch, gemessen an der Sendezeit innerhalb der ausdrücklich politischen Berichterstattung (Formate wie „Klatsch und bunte Bilder“, unter das auch z. B. königlicher Hochzeiten fallen, oder ausdrücklich religiöse Formate wie „Das Wort zum Sonntag“ klammere ich bewusst aus), offenbar „wichtiger“ als der gesamte „arabische Frühling“.

Was verrät diese Gewichtung über den Zustand der öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland?
Nichts Gutes!
Einerseits sind sie längst nicht so „staatsfern“ und „ausgewogen“, wie sie theoretisch und auftragsgemäß sein sollten. Tatsächlich sind sie eher „staatstragend“, wobei mit „Staat“ hier nicht die Gesamtheit der Bürger, sondern der „Apparat“, vor allem die politischen Parteien, gemeint sind. Und daher sind sie, wie übrigens auch die privatrechtichen Medien, ein Einfallstor für (getarnte) Werbung, für Public-Relations und auch für Propaganda – kurz: für „Meinungsmache“. Was noch einigermaßen legitim wäre, wäre solche Einflussnahme transparent – was sie aber nicht ist. Allenfalls Skandale wie der „Fall Brender“ im ZDF werfen ein Schlaglicht auf die Machtverhältnisse – und den enormen Einfluss der Parteipolitik – hinter den Kulissen.
Anderseits haben sich die Öffentlich-rechtlichen, bis in die Nachrichtenformate hinein, „boulevardisiert“ und sind kaum noch von den Programmen der kommerziellen Veranstalter unterscheidbar.

Ambivalent sehe ich den starken Einfluss der beiden großen Kirchen auf die öffentlich-rechtlichen Sender. Es laufen ja schließlich nicht nur im weitesten Sinne religiöse Sendungen auf dem „Ticket“ der Kirchen.
Tatsächlich wird z. B. die anspruchsvolle Dokumentar-Reihe „37 °“ im ZDF abwechselnd von der evangelischen Kirche, der röm. katholischen Kirche und der Redaktion für Geschichte/Gesellschaft verantwortet. Wahrscheinlich wäre ohne den in mancher Hinsicht problematischen Einfluss der Kirchen die „Boulevardisierung“ und der Niveauverlust noch ausgeprägter, als er sowieso schon ist.

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3 Kommentare
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  1. Danke, Martin!

    Das ist, schön zusammengefasst, genau der Zustand, den unsere Medienlandschaft inzwischen hat. Zwischen Jauch/Lafer, Lichter,usw und Big Brother oder „Djungelcamp“ gibts kaum bedeutende Unterschiede,
    es ist alles Boulevard, „Brot und Spiele“ könnte man auch sagen. Dazwischen die tägliche Portion
    Propaganda im Staatsfernsehen, durchweg Hofberichterstattung und Volksverblödung. Dazu noch ein paar
    niedliche Zootiere, fertig is das Verdummungsfernsehen. Gute, lehrreiche Formate wie z.B. „Computerclub“
    werden erst auf den ungünstigsten Programmplatz gelegt und dann abgesetzt.

    Dafür sollen wir demnächst alle ne Abgabe zahlen, ob wir den Scheiß ansehen wollen oder nicht, egal ob
    wir nen Fernseher haben oder nicht? Nene.. das is nicht ok.

    Ok, ich hör lieber auf, werd grad immer wütender…

    aeternitas

  2. Mit der Gebühr, das ist so, als ob man ungefragt ’ne Kiste Äpfel auf die Straße stellt und dann vorsorglich bei jedem Anwohner schon mal den Preis für einen Apfel kassiert (den man auch selber festlegt, denn es gibt da dieses praktische neue Gesetz), denn er könnte sich ja theoretisch einen nehmen. Egal, ob der Einzelne jetzt wirklich einen Apfel nimmt oder nicht.

    Wie, Sie essen keine Äpfel? Da will wohl einer aus der Reihe tanzen…

    Die kafkaesken Ansätze unserer Gesellschaft sieht man leider erst, wenn man anfängt, irgendwas anders zu machen als die Mehrheit. Darauf ist unser System überhaupt nicht eingestellt. Konsumverweigerung ist heute etwas so fundamental Unnormales, daß unser System dafür gar keine Regelung kennt. Wenn Du nicht fernsiehst, gibt es Dich also quasi gar nicht. Sei froh, daß das noch niemandem aufgefallen ist…

    Dann hast Du ja auch noch gar nicht mitbekommen, daß wir alle bedroht sind? Und daß es uns allen gut geht im Vergleich zu anderen? Kein Wunder, daß Du glaubst, eine Extrawurst bekommen zu müssen.

    Wie, du willst keine Wurst.

  3. The revolution will not be televised!

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