Moralstrafrecht?

15. April 2014 | Von | Kategorie: Gjallarhorn Weblog, Odins Auge Artikel

Ein rechtsstaatliches Grundprinzip ist es, die Gesinnung nicht zum Gegenstand des Strafrechts zu machen. Grundsätzlich gilt das auch für moralische Fragen. Wenn ich ständig Mordphantasien habe, aber weder versuche, wirklich einen Menschen umzubringen, noch damit drohe, dann bleibt der „Arm des Gesetzes“ völlig entspannt.

Jedenfalls ist das theoretisch so.
Nicht erst seit den neuesten Gesetzentwürfen zum Sexualstrafrecht und zum Persönlichkeitsrecht („Verschärfte Regelungen bei Kinderpornografie“, telepolis) und nicht nur in Deutschland ist das in der gesetzgeberischen Praxis anders.

Ginge es wirklich darum, Kinder davor zu bewahren, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden, gäbe es keine „Scheinjugendlichen“ (also volljährige Menschen, die in Pornos auftreten, aber wie Minderjährige wirken) noch wären „virtuelle Kinder“ Gegenstand des „Kinderporno“-Verbots. („Kinderporno“ ist ein verharmlosendes „Unwort“, es geht nicht um Pornographie, sondern um die Darstellung sexualisierter Kindesmisshandlungen!) In beiden Fällen gibt es nämlich keine Opfer, keine gequälten Kinder, keine missachteten Persönlichkeitsrechte.
Bei diesem – und vielen anderen „opferlosen Straftaten“ – ist die Idee der „Generalprävention“ wichtig. Zum Beispiel ist die Vorstellung weit verbreitet, dass „harmlose Nacktbilder“ eine „Einstiegsdroge“ seien; die Konsumenten würden immer härteren „Stoff“ verlangen, immer grausamere Darstellungen immer heftigerer Kinderquälereien, bis am Ende der sexuelle Missbrauch stünde. Eine meines Wissens bestenfalls naive Vorstellung. Übrigens ist auch die Vorstellung, sexueller Missbrauch von Kindern würde stets von Pädophilen verübt, ebenso falsch, wie die, dass Pädophile automatisch „Kinderschänder“ wären. Wenn wirklich alle „Pädos“ „weggesperrt“ würden, „und zwar für immer“, gäbe es immer noch sexualisierte Kindesmisshandlungen. Die nicht-sexualisierten Kindesmisshandlungen, die übrigens weitaus häufiger sind als die sexualisierten, wären überhaupt nicht davon berührt. Nebenbei bemerkt sind die Gesetzesverschärfungen der letzten Jahre gegen die wichtigste Tätergruppe, die aus dem „sozialen Nahbereich“ – Nachbarn, Bekannte, Erzieher, Trainer usw. und vor allem auch Familienangehörige – einigermaßen unwirksam. Auch wenn es sich herumgesprochen haben sollte, dass der „böse Onkel“ kein aus dem Gebüsch springender Fremder, sondern eher ein richtiger Onkel ist, wird die Familie als „geschützter Raum“ wahrgenommen und dargestellt, und das „Neuland“ der längst nicht mehr „neuen Medien“ als Bedrohung von aussen. Auch wenn Medienkonsum eine Rolle spielt, sind die Täter meistens enge Vertraute und Angehörige. Konkretes, vergleichsweise harmloses, Beispiel: Wenn jemand mit einem Kind gemeinsam Pornos ansieht, dann ist es meistens der eigene Vater!

Daher liegt es für mich nahe, dass es den Befürwortern einer Strafrechtsänderung in Wirklichkeit erst in zweiter Linie um den Schutz der Kinder geht, und in erster Linie um moralische Normen. Entlarvend ist die Wortwahl in diesem Kommentar im „Deutschlandfunk“:

„Wer Kinder auf diese Art missbraucht, muss bestraft werden, wer sich daran ergötzt, ebenso!“

Meiner Ansicht nach muss jeder, der Kinder misshandelt oder sie demütigt, bestraft werden – egal, aus welchem Grunde und in welcher Weise die Kinder „missbraucht“ (als gäbe es einen korrekten „Gebrauch“ von Kindern!) werden.
Ob sich jemand an Kinderfotos, die für Pädophile (und für sonst niemanden) erotisch attraktiv sind, „ergötzt“, ist dem gegenüber nachrangig. Es sei denn, die Moralvorstellungen, was „man“ tut und mag, seien mindestens ebenso wichtig wie der Schutz der Kinder. Übrigens: Wo fängt „sich ergötzen“ an? Schon da, wo jemand ein Kind niedlich findet? Und wo fangen die problematischen Bilder an? Viele Pädophile benutzen Abbildungen aus Wäschekatalogen als „Wichsvorlage“ – also den Otto-Katalog verbieten?

Noch deutlicher wird diese moralpanische Sichtweise im Schlussabsatz:

„[…]Dass einige Strafrechtler und Psychiater die Pläne der Bundesregierung kritisieren, weil sie fürchten, dass Pädophile es nicht mehr wagen könnten, sich an Hilfeeinrichtungen zu wenden, zeigt wieder einmal, dass das Wohl der Täter allzu oft vor das der Opfer gestellt wird. Menschen, deren Nackt-Bilder über viele Jahre durchs Netz geistern, leider darunter – oft ihr Leben lang. Ihnen gilt es, zuallererst zu helfen. Und das kann nur gelingen, wenn in Zukunft niemand mehr an unter mehr als zweifelhaften Umständen zustande gekommenen Nacktaufnahmen von Kindern Gefallen finden darf!“

Die Selbstverständlichkeit, dass es bei Präventionsprogrammen wie „Kein Täter werden“ genau darum geht, dass Kinder nicht zu Opfern werden, gerät völlig aus dem Blickfeld. Trauen sich, aus Angst vor Strafe, keine Pädophilen mehr in solche Maßnahmen, dann bleiben sie untherapiert und unbeobachtet – bis es vielleicht zu spät ist. Die Rede von „Tätern“, um deren „Wohl“ es ginge, würde nur dann stimmen, wenn allein die Tatsache, pädophil zu sein – was man sich ebensowenig wie jede andere sexuelle Präferenz einfach aussucht – jemanden zum „Kriminellen“ macht. Es kommt darauf an, dass Pädophile ihre Präferenz nicht ausleben dürfen!
Es hängt auch sehr von der Art der Nacktbilder ab, und davon, wie sie zustande kamen, ob Menschen wirklich unter ihrer Veröffentlichung leiden. Unter einem Strandfoto, das mich als kleinen Nackidei zeigt, leide ich garantiert nicht; gäbe es aber Fotos von mir, die unter Zwang zustande kämen, auch wenn darauf gar nichts Sexuelles zu sehen wäre, wäre ich jedes Mal schockiert, wenn ich sie irgendwo sehen müsste.
Mit dem letzten Satz ist die moralische Katze aus dem Sack. Ich tausche probeweise das Delikt aus – gegen Diebstahl und Hehlerei: „Und das kann nur gelingen, wenn in Zukunft niemand mehr an unter mehr als zweifelhaften Umständen erworbenen Wertgegenständen gefallen finden darf!“ Mir darf ein aus einem Einbruch stammendes Schmuckstück sehr wohl gefallen – strafbar mache ich mich erst, wenn ich die „heiße Ware“, in Kenntnis, das sie unrechtmäßig erworben wurde, wirklich kaufe.

Etwas allgemeiner:

Es gibt zwei Arten, das Verhältnis zwischen Staat und Individuum zu organisieren.
Nach dem „Kommunitärprinzip“, das heißt, von der Gemeinschaft her. Der Staat steht dabei für kollektive moralische Prinzipien und entscheidet, welche Lebensentwürfe erstrebenswert sind. Etwa, dass die Ehe zwischen genau einem Mann und genau einer Frau erstrebenswert, alle andere Formen der Ehe hingegen ablehnenswert sind, und die Gesetze sich nach diesem „Sollzustand“ richten.
Im Extrem wird dabei der Staat als „Volksgemeinschaft“, als dem Einzelnen übergeordnetes Kollektiv, gesehen; weniger extrem sind Vorstellung vom „Vater Staat“ (Deutschland, Österreich), vom „Volksheim“ (Schweden, Norwegen) oder vom „Staat als moralischer Anstalt“ (in Großbritannien).

Dem steht das liberale „Autonomieprinzip“ gegenüber: Der Staat bleibt neutral gegenüber den Lebensentwürfen der Bürger und greift nur ein, wenn einer dem anderen in die Quere kommt. Die Rechtsordnung in demokratischen Staaten entsprich – jedenfalls theoretisch – dem Autonomieprinzip. Ein „Moralstrafrecht“ kann und darf es nach diesem Prinzip nicht geben.

Das deutlichste Beispiel für Moralstrafrecht in Deutschland ist der Mordparagraph.

In der Praxis gibt es jedoch im deutschen Strafgesetzbuch einige Gesetze, die Moralstrafrecht pur sind.
„Heimtücke“ oder „niedrige Beweggründe“ kennzeichnen im deutschen Strafrecht einen Mord. Die entsprechende gesetzliche Regelung, der Paragraph 211 StGB, stammt aus der Zeit und dem Geiste des Nationalsozialismus und leitet sich von „völkischen“ Moralvorstellungen ab.
1941 wurde nach einem Entwurf von Roland Freisler, dem Chef des „Volksgerichtshofes“ und Inbegriff des „furchtbaren Juristen“, der Paragraph 211 im „völkisch-germanischen“ Sinne novelliert. Seitdem gilt die moralisch-charakterliche Definition, nach der „Mörder“ ist, wer „aus niedrigen Beweggründen“ töte. Zuvor galt, wie übrigens in fast allen Rechtsstaaten, in Deutschland Mord als „Tötung mit Überlegung“ – wer absichtlich und planvoll einen Menschen umbringt, ist ein Mörder. Ohne Planung, als Affekttat, handelt es sich um Totschlag, ohne Absicht um fahrlässige Tötung.
Eigenartigerweise fehlt im Paragraphen 211 StGB in seiner seit 1941 geltenden Fassung die Definition, was überhaupt ein „Mord“ ist. Stattdessen beschreibt er die Charakteristika eines Mörders: Das sei jemand, der aus Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier und „sonstigen niedrigen Beweggründe“ töte. Oder „heimtückisch“ oder „grausam“.
Freisler und andere NS-Juristen leiteten das aus dem „germanischen Volksrecht“ ab. Anders als in vielen anderen Fällen konnte sie sich tatsächlich auf frühmittelalterliche Rechtsvorstellungen, die aus dem „germanischen“ Kulturraum stammen, berufen. Es war allerdings das Volksrecht einer Stammesgesellschaft. Jeder kannte jeden, damit war auf der Recht sprechende Thingversammlung auch ziemlich problemlos feststellbar, was für einen Charakter der Angeklagte hatte – jedenfalls aus Sicht seiner Stammesgenossen. Ein notorischer Wüterrich, der jemanden im Affekt tot schlug, war wegen seines Temparamentes eine Gefahr und wurde aus der Gemeinschaft verbannt. (Berühmtester Fall: Erik der Rote.) Noch gefährlicher für eine Stammesgemeinschaft war jedoch der heimtückische, „arge“, „feige“ Mörder, jemand, der im Stande ist, von langer Hand einen Mord zu planen und einen Stammesgenossen (um Stammesfremde kümmerte sich der Thing nicht, es sei denn, sie genossen Gastrecht) heimlich umzubringen. Hingegen war jemand, der einen anderen im „ehrlichen Zweikampf“ umbrachte, längst nicht so gefährlich. Selbst Mord aus Rache, sofern er offen geschah, war irgendwie berechenbar, also weniger gefährlich für die Stammesgemeinschaft, als „arglistiger Mord“.
Allerdings funktioniert so etwas nur in Stammesgesellschaften. Außerdem erfolgte das Urteil nach demokratischen Grundsätzen, einstimmig durch alle Thingteilnehmer. Im angelsächsischem Strafrecht ist das im Prinzip noch heute so: eine Jury aus Laienrichtern fällt ein einstimmiges Urteil. Der NS-Staat war bekanntlich aber keine Stammesgesellschaft, und demokratische Ideen waren ihm wesensfremd.

Nach Überzeugung der NS-Juristen war die Tat lediglich Symptom des Wesens eines Mörders, eines „unmoralisch“ denkenden Menschen. Daher war es nur konquent, versuchten Mord mit dem vollendeten gleichzusetzen – was Hitler selbst als „einen der wichtigsten Sätze“ der nationalsozialistischen Strafrechtserneuerung bezeichnete. Umgekehrt war ein Mensch, der „nur seine Pflicht tat“, wenn er Menschen umbrachte, oder, aus NS-Sicht, „moralisch einwandfrei“ handelte, wenn er tötete, gemäß Nazi-Rechtsauffassung kein Mörder.
Die ideologischen Ausrichtung des Mord-Paragraphen zwingt die deutsche Rechtsprechung regelmäßig zu unbefriedigenden Verrenkungen, etwa der, dass die Täterin „die Heimtücke ihres Handels“ nicht erkannt hätte.
„Heimtückisch“ töten, weil sie es anders gar nicht könnten, vor allem die körperlich Unterlegenen. Wenn Frauen Männer töten, geschieht das deutlich seltener in offener Konfrontation, als wenn Männer Frauen umbringen. Nur rund 15 Prozent aller Angeklagten in Mordverfahren sind Frauen, aber ihr Anteil an Giftmorden ist fast sechsmal so hoch. Dessen Opfer sind immer „arglos“, die Täterinnen also „heimtückisch“. Egal, was der Tat alles voran ging.
Das Bundesverfassungsgericht mahnte daher 1977 die restriktive Auslegung der Mordmerkmale an, um den deutschen Gerichten die Anerkennung mildernder Umstände zu ermöglichen, die im Mordparagraphen an sich nicht vorgesehen sind. Vor allem in „Haustyrannenmorden“ gibt es seither dem Wortlaut des Gesetzes widersprechende Strafmilderungen.

In Österreich, dessen Rechtssystem dem bundesdeutschen sehr ähnlich ist, kommt man ohne moralische Kategorisierungen im Mordparagraphen aus. Mord ist jede Art der vorsätzlichen Tötung. Ein breiter Sanktionskorridor macht es möglich, ohne juristische Verrenkungen mildernden Umstände zu berücksichtigen.

„Wer einen anderen tötet, ist mit Freiheitsstrafen von zehn bis zu 20 Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu bestrafen.“

Paragraph 75 des österreichischen Strafgesetzbuches (StGB)

Ein Strafrecht, das auf moralische Prinzipien verzichtet, ist also keineswegs „unmoralisch“. Auch bei Delikten wie Kindermisshandlung, Sexualstraftaten oder groben Verletzungen der persönliche Würde sollten moralische Wertungen keine Rolle spielen.

Leider tuen sie es doch. Und leider gibt es immer wieder „moralische“ Rechtfertigungen für grundrechtswidrige Gesetze und Vorschriften!

Martin Marheinecke, 15. April 2014

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3 Kommentare
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  1. Guter Text zu einem heißeisernen Thema!

    Aber, kann das sein @ Thing/Laienjury: Meinst Du da vielleicht einfache Mehrheit statt Einstimmigkeit?

  2. Im angelsächsischen Strafrecht, das tatsächlich auf „wikingerzeitliche“ Rechtsbräuche zurück geht, muss die Jury / der Thing in der Tat einstimmig entscheiden. Es wirkt heute noch im britischen und us-amerikanischen Strafrecht nach, denke an Gerichtsdramen wie die „Die 12 Geschworenen“.
    Offensichtlich muss die Zahl der Laienrichter nicht unbedingt ungerade sein – ungerade Zahlen sind ja eher bei Mehrheitsentscheidungen wichtig. Ich vermute, dass es wohl beides gab – Mehrheitsentscheidungen und Einstimmigkeit, abhängig von Art und Schwere des Deliktes.

  3. Ergänzung: „Pädophilie“ (ein missverständlicher und irreführender Begriff, „Pädosexualität“ wäre vielleicht besser, aber „Pädophilie“ hat sich eingebürgert) bezeichnet das „primäre sexuelle Interesse an Personen, die noch nicht die Pubertät erreicht haben“. Pädophilie wird als psychische Störung angesehen, und zwar als Störung der Sexualpräferenz (Paraphilie).
    Über die Ursachen besteht Uneinigkeit, auch darüber, wie viele Pädosexuelle es überhaupt gibt. (Das ist z. T. eine Frage der Definition.) Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 2 bis 20 Prozent aller Täter, die sexuelle Übergriffe auf Kinder verüben, pädophil sind.
    Das heißt, 80 bis 98 Prozent aller Taten, die als „sexueller Missbrauch“ bezeichnet werden, werden NICHT von so genannten Pädophilen verübt!

    Es ist also, im Sinne des Kinderschutzes, kontraproduktiv, wenn sich „alle Welt“ auf die kleine Minderheit der „Pädophilen“ unter den Sexualstraftätern kapriziert, und wiederum sexuell motivierte Gewalt gegen Kinder sehr viel mehr Aufmerksamkeit gegenüber den Kindesmisshandlungen insgesamt findet.
    Laut offizieller Polizeistatistik sterben in Deutschland jede Woche drei Kinder an den Folgen ihrer Misshandlung. Es gibt, nach der selben Statistik, pro Jahr 2 – 5 Morde an Kindern aus sexuellen Motiven.
    Jede Woche werden rund siebzig Kinder so massiv malträtiert, dass sie ärztlich behandelt werden müssen!

    Noch etwas, zu der kleinen, aber viel beachteten Tätergruppe „pädophil motivierte Kindermisshandler“:
    Ein „Pädophiler“/Pädosexueller kann nichts für seine Präferenz – die ich ungern als „Krankheit“ bezeichne – die nichts desto trotz sehr gefährlich ist. Er (sehr viel seltener: sie) hat es aber sehr wohl in der Hand, wie er mit dieser gefährlichen Veranlagung umgeht.
    Auch wenn der Begriff „Krankheit“ nicht passt, kann man einen „Pädophilen“, der
    „seine Veranlagung auslebt“, mit einem HIV-Positiven vergleichen, der absichtlich Gesunde infiziert. Er kann seine Krankheit nicht als Schutzgrund für seine Tat nutzen. Das schreibe ich, weil Sexualstraftäter gern auf ihrer „Krankheit“ als „Entschuldigung“ für ihre Kriminaltät herumreiten.

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