Mal wieder „Blasphemie“-Anklage gegen Kunst- und Meinungsfreiheit

19. Oktober 2012 | Von | Kategorie: Gjallarhorn Weblog

Ich weiß nicht, ob ihr es gemerkt habt? Überall, wo es Schwätzer, Gemeine, Sensationsgierige, Diebe, Scharlatane gibt, sie alle sind übertrieben gläubig. Ist das ein Paradoxon?

Wegen Äußerungen wie dieser muss sich Fazil Say in Istanbul vor Gericht verantworten – wegen „Beleidigung des Islams“. Unfassbar – Erdogan verfolgt Star-Pianist wegen Twitter-Witz (Deutsch-Türkische Nachrichten) Künstler und Intellektuelle sehen in dem Prozess einen weiteren Beleg für die Islamisierung des Landes – sie fürchten den Verlust der geistigen Freiheit. Leg dich nicht mit dem Muezzin an (SpOn). Nach einem Gerichtstermin am 18. Oktober wurde der Prozess auf den 18. Februar 2013 vertagt. Prozess gegen Starpianisten vertagt (SpOn). Bei Verurteilung drohen Say 18 Monate Haft.

Fazıl Say ist ein international renommierter türkischer Pianist und Komponist. Als Pianist spielte er in den wichtigsten Orchestern der ganzen Welt, u.a. bei der New York Philharmonic, dem Israel Philharmonic Orchestra, dem Baltimore Symphony Orchestra, Concertgebouw-Orchester, Philadelphia Orchestra, den Sankt Petersburger Philharmonikern, dem BBC Philharmonic Orchestra, dem Orchestre National de France, den Wiener Symphonikern und vielen mehr. Als Komponist ist Say mindestens eben so erfolgreich wie als Pianist.

Er ist allerdings, wie die meisten wirklich bedeutenden Künstler, auch ein „Selberdenker“ und ein politischer Kopf.
Im Dezember 2007 entbrannte weit über die Türkei hinaus eine heftige öffentliche Diskussion: Say beklagte in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ die politische Situation in der Türkei und dachte laut übers Auswandern nach.

Ebenfalls für heftige Diskussionen sorgte seine offen zum Ausdruck gebrachte Ablehnung des Arabesk-Pop, einer bei der aufstrebenden Mittelschicht Anatoliens beliebten Musikrichtung mit sentimentalen Texten und pseudo-folkloristischen Melodien. Ein türkischer Freund bezeichnete Arabesk-Pop als „Musikantenstadl auf orientalisch“. Dabei geht es nicht allein um Musikgeschmack oder Says scharfe Kritik an mangelnder Qualität. (Zum Beispiel hätte die populäre Sängerin Sezen Aksu bei einem gemeinsamen Auftritt sieben von zehn Tönen nicht getroffen.) Für solche Äußerungen wurde Say heftig kritisiert – es ist offensichtlich, dass es weniger ein Streit um Musik, als ein hochpolitischer „Stellvertreterkrieg“ ist: Say gilt als Anhänger Mustafa Kemal Atatürks und des säkulären Staates. Türkei: Politische Töne im Streit um die Musikrichtung (Tagesspiegel).

Warum Says Äußerungen den Islam beleidigen sollen, ist wenig schlüssig. Bekanntlich gibt es Schwätzer, Gemeine, Sensationsgierige, Diebe und Scharlatane unter den Anhängern sämtlicher Religionen und Weltanschauungen. Der Punkt ist die „übertriebene Gläubigkeit“: Wo es unkritischen Wunderglauben gibt, da gibt es erfahrungsgemäß auch Diebe und Scharlatane, die diesen unkritischen Wunderglauben ausnutzen. Beispiele dafür gibt es auch bei uns überreichlich, zwischen Esoterik-Messe und „traditionalistischer“ katholischer Messe.
Dass islamische Geistliche über Sprüche wie:

Der Muezzin hat das Abendgebet in 22 Sekunden ausgerufen […] Was hast es du so eilig? Eine Geliebte? Ein Raki auf dem Tisch?

nicht gerade begeistert sind, ist nachvollziehbar – vor allem dann, wenn das Gewissen der betroffenen Geistlichen in dieser Hinsicht nicht gerade rein ist.

Entscheidend für den Prozess, der in dieser Form in der Türkei von einigen Jahren noch undenkbar wäre, dürften Says politische Äußerungen sein. Der Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Erdogan warf Say, sie zerstöre die kulturelle Tradition, und auch ihre Sozialpolitik kritisierte er. Wiederholt beklagte er die Islamisierung der Türkei und fordertete eine säkulare Regierung. Damit ist er der AKP, die sich auf islamistischen Kreise stützt, ein Dorn im Auge – und: Say ist prominent, er kann nicht als unwichtiger Querulant abgetan werden.

Say ist beileibe kein Einzelfall. Zahlreiche „unbequeme“ Künstler, Journalist und Intellektuelle sitzen in türkischer Haft. Laut Amnesty International wird die Verteidigung oft dadurch erschwert, dass ihre Rechtsanwälte weder Beweismittel noch Akten einsehen können. „Gummistrafbestände“ wie „Beleidigung des Türkentums“ oder, im wachsende Maße, „Blasphemie“ dienen dazu, politisch Unliebsame mundtot zu machen.
Erdogan lässt angeblich ein Gesetz erarbeiten, das blasphemische und beleidigende Kommentare unmittelbar unter Strafe stellt. Wobei Erdogan an sich kein Antidemokrat ist und den politische Islam auch nicht aus bloßem Machtkalkül unterstützt. Er ist lediglich der Ansicht, dass die Religion Quelle aller Moral sei – also wäre ein islamischer Politiker (wie er) automatisch moralisch im Recht, und jeder, der sich mit islamischen Politiker anlegt, handele gegen Gottes Willen. Ersetzt man „Islam“ durch „Christentum“, ist das eine bei deutschen Politikern, auch außerhalb der CDU/CSU, nicht seltene und bei österreichischen Politikern „rechts der Mitte“ sogar durchaus übliche Ansicht.

Parallelen zum Fall „Pussy Riot“ sind durchaus vorhanden – der Staat statuiert ein Exempel, da spielen Grundrechte keine Rolle, und die organisierte Religion ist hier wie dort Stütze der Mächtigen.

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