He, uns gibt’s ja gar nicht!

5. Juli 2017 | Von | Kategorie: Gjallarhorn Weblog, Odins Auge Artikel

Es ist Sommer. Damit nähert sich in den elektronischen und hölzernen Medien das „Sommerloch“ alias „Saure-Gurken-Zeit“ aka „Silly Season“. Die Zeit, in der gern mal Wesen beobachtet werden, die es nach gesellschaftlichem Konsens nicht gibt – Nessi, Yetis, kleine graue oder grüne Männchen von anderen Planeten.

Nun ist es bei Nessi & Co. so, dass die empirische Grundlage für ihre Existenz denkbar dünn ist. (Anderseits hat eine mangelnde empirische Grundlange Gläubige nie vom Glauben – im Sinne von „für wahr halten“ – abgehalten.)

Dogmatische Leugner

Es gibt aber auch Dinge, bei denen die empirischen Beweise, dass es sie gibt, nahezu überwältigend sind, und an die trotzdem erstaunlich viele Menschen nicht glauben wollen – bekannte Beispiele: Klimawandel, Evolution, Mondlandung, Kugelgestalt der Erde. Sie nennen sich meistens „Skeptiker“ oder „Kritiker“, sind allerdings dogmatische Leugner.

„Dogmatische Leugner“ sind nicht nur „Spinner“ und „Verschwörungstheoretiker“, sondern auch jene, die mir sagen, dass es bestimmte Menschen, von denen ich aus persönlicher Erfahrung weiß, dass es sie gibt, gar nicht gäbe.

    Einige Beispiele, die Freunde von mir betreffen:

  • Es gäbe nur genau zwei Geschlechter, das Gerede vom „dritten Geschlecht“ oder „Intersexualität“ sei Unfug.
  • Es läge auf der Hand, dass alle germanisch orientierten Heiden notwendigerweise Weiße seien (diese Ansicht wird sowohl von rassistischen Heiden wie von manchen Gegnern rassistischer Heiden vertreten).
  • Trans-Männer seien gar keine richtigen Männer, sondern nur Frauen, die sich irrtümlicherweise für männlich hielten.

Nicht selten werden solche Behauptungen mit wissenschaftlich klingenden Argumenten unterfüttert. Nur: Ein einziges Gegenbeispiel zu der These „XY gibt es nicht“ würde im wissenschaftliche Diskurs ausreichen, um diese These zu widerlegen. Dass es in der Zoologie keine anerkannte Spezies „Yeti himalayensis“ gibt, liegt einzig daran, dass die Indizien für die Existenz des „Schneemenschen“ gelinde gesagt extrem dünn sind. Ein einziges im Himalaya gefundenes Haar mit der DNA einer unbekannten Menschenaffenspezies könnte das ändern.
Da es aber nicht wirklich um überprüfbare Fakten, sondern um Glaube, Ideologie oder hin und wieder auch um Wahn geht, werden Gegenbeweise ignoriert oder als „irrelevant“ beiseitegeschoben. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Nun mag ich nicht daran glauben, dass es „antifaschistische neugermanische Heiden“ nicht gäbe – sonst gäbe es die Nornirs Ætt nicht. Da es uns aber gibt, muss sie „in Wirklichkeit etwas anderes“ sein – entweder nicht antifaschistisch oder nicht neugermanisch. (Ein Beispiel: der Aufsatz „Odin statt Jesus!“ der „Arbeitsgemeinschaft Theorien in der Archäologie“, vor allem die Fußnote 30.)

Etwas anders liegt der Fall beim „europäischen Schamanismus“. Die Behauptung, es gäbe so etwas nicht, beruht auf einer anderen Definition für Schamanismus als die, von der ich ausgehe. Diese Meinungsverschiedenheit wäre allenfalls akademischer Natur, wäre sie nicht moralisch aufgeladen – etwa mit dem Hinweis, wer behaupten würde, es gäbe europäische schamanische Traditionen, würden damit nur „cultural appropriation“ (kulturelle Aneignung) rechtfertigen oder kaschieren wollen.

In beiden Fällen wird eine Wahrnehmung, die offensichtlich nicht ins Weltbild passt, bestritten, nebst Immunisierung gegen Einwände. („Alle germanische orientierten Neuheiden sind autoritär und völkisch.“ – „Aber diese sind es nicht!“ – „Da siehst du mal, wie raffiniert sich diese Faschos tarnen!“)

Das ist noch relativ überschaubar und, außer bei total fanatisierten Diskussionsteilnehmern, debattenfähig. Aufklärung ist eine Frage der Fakten und des guten Willens, und manchmal ist die Lösung auch englisch-pragmatisch: „We agree to disagree“ – etwa über die Schamanenfrage.

Schwieriger wird es, wie so oft, wenn Sex oder Geld geht. Besonders schwierig also beim Thema käuflicher Sex.

Eine Sorte Menschen, von denen ich erfuhr, dass es sie gar nicht gäbe, sind freiwillige Sexarbeiter_innen. Daran, dass es sie nicht gäbe, ändere auch die Tatsache nichts, dass ich persönlich mit einer freiwilligen Sexarbeiterin befreundet bin – denn so etwas wie „freiwillige Prostitution“ könne es gar nicht geben!

Das wurde mir bei einer Diskussion über das am 1. Juli in Kraft getretene neue deutsche Prostituiertenschutzgesetz ziemlich uncharmant an den Kopf geworfen.

Besagtes Gesetz zeichnet sich, darin sind sich die meisten Sachkenner_innen einig, durch eine sogar für die neuere deutsche Gesetzgebung bemerkenswerte Realitätsferne aus. (Ein kritischer Beitrag von vielen: Das neue Prostitutionsgesetz macht alles noch schlimmer.)

Die schlimmste Auswirkung: Sexarbeiter_innen (ja, es gibt auch männliche Prostituierte!) müssen sich registrieren lassen, und zwar mit ihrem bürgerlichen Namen und in allen Gemeinden, in denen sie arbeiten oder in Zukunft arbeiten werden. Deutschland hat damit zum ersten Mal seit der Nazizeit wieder eine „Hurenkartei“. Für alle, die sich nicht anmelden können oder wollen, sei es wegen eines prekären Aufenthaltsstatus, aus Angst vor Behörden oder wegen der Unmöglichkeit, sich zu outen (Familie, Kinder, Beruf) bedeutet das: Gang in die Illegalität und damit in einen gänzlich ungeschützten und rechtsfreien Raum.
Das Gesetz ist großer Murx, ein schlechter Formelkompromiss zwischen Koalitionspartnern, die sich selbst über Grundsatzfragen herzlich uneinig waren (sogar innerhalb der beteiligten Parteien), und die glaubten, irgendwann einmal zu Potte kommen müssen. Ich kann es nicht einmal als „gut gemeint, aber schlecht gemacht“ werten. Das Gesetz ist Ausdruck kompletter Ignoranz der Gesetzgebenden gegenüber der Zielgruppe, die sie doch angeblich schützen wollen.
Immerhin: Es gibt eine Verfassungsbeschwerde gegen das „Prostituiertenschutzgesetz“

Wie könnte aber ein besseres, wirksameres und gerechteres Gesetz aussehen? Ein populärer Lösungsvorschlag wäre ein „Sexkaufverbot“ nach schwedischem Muster. Das schwedische Prostitutionsgesetz fokussiert sich nicht auf die Prostituierten, sondern auf die Käufer sexueller Dienste. Sie werden zur Verantwortung gezogen, nicht die Prostituierten.
Populär ist das Sexkaufverbot, weil es auf dem gesellschaftlichen Konsens beruht, dass Prostitution Gewalt gegen Frauen sei. Es stellt sowohl jene zufrieden, die aus moralischen beziehungsweise religiösen Gründen Prostitution verboten sehen wollen, wie jene, die sich um unterdrückte, ausgebeutete Frauen sorgen. Außerdem ist dieses „anti-patriarchale“ Gesetz ganz nach dem Herzen vieler Feministinnen. Sie gehen davon aus, dass Prostitution grundsätzlich eine Form von Ausbeutung sei, dass sie Ausdruck von ungleichen Machtverhältnissen im Patriarchat sei und dass niemand freiwillig dieser Tätigkeit nachgehen könne. Prostitution sei grundsätzlich „Gewalt gegen Frauen“ und sei also immer „Zwangsprostitution“ – sogar dann, wenn eine Prostituierte von sich sagt, dass sie freiwillig als Sexarbeiterin arbeite. In diesem Ansatz kann es nämlich keine freiwillige Prostitution geben. Einige Feministinnen, z. B. Alice Schwarzer gehen davon aus, dass eine Trennung von Sex und Gefühl – womit sie offensichtlich Liebe meinen – an sich schon ohne patriarchalen Zwang nicht möglich sei. Deutlich rationaler ist der marxistische Ansatz, dass die Akzeptanz der Warenförmigkeit sexueller Beziehungen sexueller Befreiung entgegen stünde.
Diese Position prägt das „schwedische Modell“ der Kriminalisierung der Kund_innen von Sexarbeiter_innen – eine (scheinbar) genial einfache „schwedische Lösung“, die Prostitution abzuschaffen, ohne den unterdrückten Frauen neues Unrecht zu tun.

Das Sexverkaufsverbot nach schwedischem Muster ist teilweise wirklichkeitsfremd (wenn auch nicht so sehr wie das neue deutsche „Prostitutiertenschutzgesetz“)

Zuerst fällt mir auf, dass nur über Frauen als Prostituierte und von Männer als Sexkäufern gesprochen wird. (Für Fachleute: es ist eine heteronormative Theorie.) Es gibt aber auch (cis-)männliche Prostituierte, und zwar gar nicht einmal so wenige. Außerdem gibt es transsexuelle und intersexuelle Sexarbeiter_innen. „Sexkäufer“ können auch weiblich sein – sonst gäbe es weder käuflichen „Lesbensex“ noch diskrete Callboys. (Nie gehört? Eine kleine Internetrecherche ist da hilfreich. Nur nicht vom Arbeitsplatzrechner aus, der Ausflug auf „Schmuddelseiten“ könnte missverständlich sein. 😉 )
Vielleicht noch ärgerlicher ist, dass diese vermeindlich moralische und menschenfreundliche Position Sexarbeitern und Sexarbeiterinnen grundsätzlich die Fähigkeit abspricht, freiwillig diese Tätigkeit gewählt zu haben. Vertreter_innen dieser Position neigen zum Paternalismus. Ganz extrem ist das bei jene Expert_innen, denen zufolge freiwillige Prostituierte (stets weiblich gedacht!) eine schwere Missbrauchserfahrung durchgemacht hätten und deshalb traumatisiert seien. Jedenfalls seien sie nicht „normal“ – denn eine „normale“ Frau prostituiert sich nicht! Da sind sich die meist antifeministischen Vertreter einer „traditionellen Sexualmoral“ und viele radikale Feministinnen bemerkenswert einig.
Um es deutlich zu sagen: Sehr viele weibliche Sexarbeiterinnen haben Missbrauchserfahrung, aber die meistens dieser Frauen gehen der Sexarbeit nicht freiwillig nach.
Die Bevormundung geht teilweise soweit, dass Sexarbeiter_innen nicht zu Diskussionen über Gesetze über Sexarbeit eingeladen werden. Das ist u.a. auch in Schweden der Fall gewesen. Die Bevormundung führt zum Ausschluss aus dem politischen, demokratischen Prozess jener Menschen, die am meisten davon betroffen sind.

Das anscheinend ärgerliche Phänomen der freiwilligen Prostitution wird gerne mit dem Verweis auf finanzielle Zwänge erklärt. In der Tat gibt es Armutsprostitution – und Drogenabhängige, die für den nächsten „Schuss“ Sex verkaufen, machen das offensichtlich nicht freiwillig. Anderseits – sehe ich Sexarbeit als „Arbeit“ und, wenn sie aus finanziellen Druck erfolgt, als „Zwangsarbeit“ an, dann wären auch der größte Teil des (von interessierter Seite gepriesenen) Niedriglohnsektor und alle miesen Jobs, die kein Mensch gerne macht, Zwangsarbeit. Und die Jobcenter wären der Beihilfe zur Zwangsarbeit schuldig, weil die Verweigerung, einer miesen und unterbezahlten Arbeit nachzugehen, mit Entzug des Arbeitslosengeld IIs bestraft wird – quasi die staatlich beauftragten Zuhälter des „Arbeitsstrichs“.

Aber letzten Endes geht es um Moralvorstellungen, meistens sittenchristlicher, oft ziemlich verklemmter, zwanghafter Natur. Alice Schwarzer unterscheidet sich nicht viel von einem patriarchalen-paternalistischen Moralprediger, wenn sie schreibt:

Und was immer ihr glaubt, bedenkt, wie allein schon die Möglichkeit, zu einer Prostituierten zu gehen, das Begehren und den Blick eines Mannes und eurer Söhne prägen kann. Ein Blick, der sich auch auf euch und eure Töchter richtet.

Liebe Befürworterinnen der freiwilligen ­Prostitution!

Bleibt festzuhalten: Es gibt wirklich freiwillige Sexarbeiter_innen. Und sie machen es wirklich freiwillig. Dass es viel zu viel Zwangsprostitution gibt, dass kein Mensch in eine Lage kommen sollte, in der der einzige Ausweg aus finanzieller Notlage Sexarbeit ist, und dass Zuhälter nicht aus Menschenfreundlichkeit handeln, ist mir völlig klar. Ebenso, dass die tatsächlich freiwilligen Sexarbeiter_innen in der Minderheit sein dürften.

Noch etwas zum „Sommerloch“

Das „Sommerloch“ alias „Saure-Gurken-Zeit“ aka „Silly Season“ ist eine nachrichtenarme Zeit nebst urlaubsbedingt schwacher Besetzung der Redaktionen, in der mehr zweifelhafte Meldungen als gewöhnlich ungeprüft „durchrauschen“. Schlechte Recherche erklärt die typischen Sommerlochmeldungen aber nur zum Teil: Traditionell werden die Parlamentsferien von „Hinterbänklern“ genutzt, um sich ins Gespräch zu bringen, oder von Lobbyisten zur Stimmungsmache. „Sommerloch“ und „Weihnachtszeit“ werden von geschickten Pressesprechern und Marketingexperten gern genutzt, um Themen zu lancieren, wie es so schön heißt.
Im Boulevardjournalismus sorgt ein weiterer Grund für „Silly Season“-Themen: Urlaubsstimmung geht erfahrungsgemäß mit erhöhtem Bedürfnis nach leichter Unterhaltung einher. Auch wenn an ernsthaften Meldungen über Kriege, Krisen, Katastrophen kein Mangel wäre, werden Klatsch und belanglose Sensationsmeldungen vorgezogen.

Das „Sommerloch“ ist auch die Zeit der Besserwisser, die mit arrogantem Lächeln und ob ihrer hohen Bildungsniveaus stolz geschwellter Brust auf jene „Dummköpfe“ herabsehen, die so naiv und verblendet sind, so einen „Quatsch“, der gegen den „gesunden Menschenverstand“ verstöße, ernsthaft zu glauben.
Na ja, abgesehen davon, dass mangelhaft Gebildete fast nie etwas für ihre mangelnde Bildung können, und dass es den aggressiv nach unten tretenden Besserwissern gelegentlich selbst an Allgemeinbildung, meistens an Herzensbildung, aber nie an Einbildung mangelt, ist der „gesunde Menschenverstand“ ein fragwürdiger Genosse.
Der „gesunde Menschenverstand“ ist ein beliebter Vorwand für Meinungsfreudigkeit bei wenig Sachkenntnis: „Ich bin kein Pädagoge, aber dass das mit der Inklusion nicht funktionieren kann, sagt einem schon der gesunde Menschenverstand.“ – „Ich bin zwar kein Physiker, aber dass die Relativitätstheorie zu unsinnigen Ergebnissen kommt, lässt sich schon mit etwas gesundem Menschenverstand erkennen.“ Albert Einstein entgegnete so argumentierenden „Kritikern“ (also: dogmatischen Leugnern):

„Der gesunde Menschenverstand ist die Summe aller Vorurteile, die sich bis zum 18. Lebensjahr im Bewusstsein festgesetzt haben.“

Auf genau das 18. Lebensjahr würde ich mich nicht festlegen, ansonsten geben ich ihm Recht.

In seiner kollektiven Form wird der „gesunde Menschenverstand“ heute, außer von Nazis, denen es nichts ausmacht, als Nazis erkannt zu werden, nicht mehr „gesundes Volksempfinden“ genannt. Statt dessen sind für die Summe der verfestigten Vorurteile, auf die sich ein Großteil der Bevölkerung einigen konnte, Umschreibungen wie „gesellschaftlicher Konsens“ üblich. Richtiger, wahrer oder humaner wird er dadurch nicht.

Martin Marheinecke, Juli 2017

Persönliche Anmerkung: Ich habe übrigens noch nie in meinem Leben sexuelle Dienstleistungen gekauft. Das macht mich nicht zu einem „moralisch sauberen“ Mann. Es liegt an meinem eher schwachem sexuellem Interesse (jedes Mal, wenn ich Sex hatte, ging die Initiative von meiner Partnerin oder meinem Partner aus, und meistens lautete meine Antwort auf die Frage: „Hast du Lust?“ „Nein!“) und purem Zufall, dass ich noch nie Kunde eines Sexarbeiters oder einer Sexarbeiterin war. Und ja, ich bin in der Tat bisexuell. Was es ja, glaubt man manchen schwulen Männern, auch nicht gibt.

MartinM

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