Haiti, das Erdbeben und Voodoo

6. Februar 2010 | Von | Kategorie: Gjallarhorn Weblog

Am 12. Januar ereignete sich im Karibikstaat Haiti ein verheerendes Erdbeben, das nach Regierungsangaben über 200.000 Menschenleben forderte und die ohnehin schwache Infrastruktur des Landes weitgehend zerstörte. Der auch politisch einflußreiche fundamentalistische US-Televangelist Pat Robertson ist bekanntlich der Meinung, dass die Haitaner mit ihrem Voodoo selbst Schuld an der Erdbebenkatastrophe seien: Pat Robertson – Haiti’s Pact w/ Devil Created Earthquake (video). Auch Al Mohler, Leiter des theologischen Seminars der SBC in Nashville ist der Ansicht, dass das Erdbeben der Wille Gottes und das Erdbeben eine Strafe für Synkretismus sei, also die Vermischung von christlichen Glauben und Voodoo: Does God hate Haiti?.
Eine mit dem Prinzip der christlichen Nächstenliebe nicht verträgliche Haltung, die nicht nur im Bible Belt, sondern auch unter einigen mitteleuropäischen Katholiken auf Zustimmung stößt: Österreichischer Pfarrer hält Haiti-Beben für Strafe Gottes.

Demnach hätten 1791 die aufständischen Sklaven einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, um sich von der französischen Kolonialmacht und dem Sklavendasein zu befreien. In der Konsequenz würde auf Haiti ein Fluch lasten, der so lange anhält, wie dort der satanistische Zauberkult des Voodoo praktiziert würde.
Nun mag man über religiöse Fanatiker lächeln, auch wenn ich über Hassprediger – und dafür halte ich Fundamentalisten vom Kaliber Robertsons – nur bitter Lachen kann.

Wenn auch außerhalb religiös-extremistischer Kreise die Vorstellung, dass das am 14. August 1791 tatsächlich abgehaltene Opferritual vom Bois Caïman einen bis heute nachwirkenden „Teufelspakt“ bewirkt hätte, nur Kopfschütteln auslöst, gibt es durchaus ernstzunehmende Kommentatoren, die im Voodoo eine wesentliche Ursache der haitianischen Misere sehen.
So machte sich Marko Martin in einen Gastkommentar auf Welt.de Unkorrekte Gedanken über Haiti – Im Schatten des Voodoo. Darin heißt es:

Ist es herzlos, jetzt im Augenblick der größtmöglichen Katastrophe die Frage zu wagen, weshalb ausgerechnet Haiti, immerhin bereits 1804 unabhängig geworden, zu einer Art Vorhölle werden konnte? Experten sagen, dass erdbebentaugliche Bauweise (wie etwa im rationalen Costa Rica seit den Fünfzigerjahren Usus) ein Massensterben verhindert hätte. Auch weisen sie darauf hin, dass ein Land, welches seine Bodenschätze nicht nutzt und stattdessen Wälder abholzt, zur perfekten Einflugschneise für Hurrikans wird. Weshalb jedoch dieser empörende Mangel an Vorausschau?

Die naheliegenste Anwort ist: 1957 begann ein jahrzehntelanges brutales Regime unter dem „Papa Doc“ genannten Diktator Francois Duvalier. Seine Tyrannei trieb die Verarmung der Bevölkerung voran. Daran änderte sich mit Duvaliers Tod im Jahr 1971 nichts, als sein Sohn Jean-Claude („Bebé Doc“) die Macht übernahm und das Terrorregime fortsetzte, bis er 1986 nach Hungerrevolten gestürzt würde. Unter den Duvaliers waren Zehntausende getötet worden. Die Duvaliers hatten insofern etwas mit Voodoo zu tun, da sie die damit verbundene Mythen propagandistisch ausnutzten – so stillisierte sich „Papa Doc“ zum „Baron Samedi“, einem Totengott des Voodoo. Wegen der allgegenwärtigen Korruption und des Fehlens jeder Perspektive verließen gebildete Haitianer während der Duvalier-Diktatur massenweise ihr Heimatland – ein verheerender „Braindrain“.

Aber weiter in Marko Martins Kommentar:

Kolonialismuskritiker führen gern die Vokabel von der „Entfremdung“ beziehungsweise der „Zerstörung organisch gewachsener Kultur“ im Mund, um jede Dritte-Welt-Abstrusität zu erklären. Was aber, wenn die Haitianer, zu 90 Prozent homogene Nachfahren afrikanischer Sklaven, auf furchterregende Weise „authentisch“ geblieben sind, Täteropfer ihres obskurantistischen Voodoo-Kultes, der jedes abgewogene Moralsystem vitalistisch unterminiert? Von Mario Vargas Llosa stammt der strenge, im Grunde jedoch mitfühlende Satz: „Wichtige Elemente einer sogenannt autochthonen Kultur müssen verschwinden, will man die Existenz der in ihr Lebenden retten.“

Mario Vargas Llosas Ausspruch mag berechtigt sein – aber das Bild, dass Martin mit wenigen Worten vom Voodoo malt, ist ein Popanz. Haitianisches Voodoo ist durchaus verschieden von seinem westafrikanischen Gegenstück, es ist stärker magieorientiert, im Alltag stärker vom Wunschdenken und von Rachephantasien geprägt und im allgemeinen fatalistischer und angstgeprägter als etwa das in Benin praktizierte Vodoun oder auch das brasilianische Candomblé. Sieht man sich die haitianische Geschichte und die haitianischen Verhältnissse an, versteht man, wieso.
Haitianisches Voodoo enthält auch zahlreiche von der katholischen Kirche (der vier Fünftel der Haitianer angehören) übernommene Elemente – z. B. werden die Loas (Götter) mit katholischen Heiligen gleichgesetzt. Die berühmte „Voodoopuppe“, in die der Rachezauberer Nadeln sticht, die dem durch die Puppe repräsentierten Menschen schaden sollen, stammt nicht aus Afrika, sondern aus der europäischen Volksmagie. (Für Magieexperten: von den Atzelmänner oder Rachepuppen.) Die nach Hispaniola als Sklaven verschleppten Afrikaner stammten aus höchst unterschiedlichen Kulturen und sprachen unterschiedliche Sprachen. Außerdem dürfte praktisch kein schwarzer Haitianer „reinrassiger“ Afrikaner sein.
Voodoo, wie es auf heute Haiti praktiziert wird, ist ein Spiegelbild des gesellschaftlichen Elends – wer nicht mehr an höhere Gerechtigkeit glauben kann, und sich auch nicht gegen Gewalt und Korruption wehren kann, hält sich eben an Rachezauber.

Gern wird darauf hingewiesen, dass die im Ostteil der Insel Hispaniola gelegene Dominikanische Republik ein grünes, vergleichsweise wohlhabendes Land sei – allerdings war bis etwa 1960 das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der beiden Nachbarstaaten in etwa gleich hoch. Vor „Papa Doc“ war Haiti ein „ganz normaler“ Karibikstaat – mit allen damit verbundenen Problemen, arm, aber ohne allgemeines Elend. (Siehe: Haiti schleppt sich von Krise zu Krise (NZZ).)
Zu Beginn wurde „Papa Docs“ brutale Kleptokratie übrigens aus antikommunistischer Motivation von den USA unterstützt. Die Nutzung von Bodenschätzen oder der Ausbau des Tourismus oder überhaupt irgend ein ökonomischer Fortschritt war nicht mehr möglich. Für eine erdbebensichere Infrastruktur fehlten nach einigen Jahren Kleptokratie schlicht die Mittel. Aus purer Verzweiflung, um nicht zu verhungern, betriebt die Landbevölkerung Raubbau, bis es nicht mehr ging – die Wälder sind längst abgeholzt, die Böden ausgelaugt.

ef-Kolumnist Edgar Gärtner („eigentümlich frei“ ist ein nach eigenen Angaben libertäres Magazin) ging in seinem Artikel Haiti – der Fluch der Blasphemie noch weiter. Er vertritt eine konsequente Schuldzuschreibung für das haitianische Elend an die Haitianer aus Kolonialherrensicht. Hauptursache zwar nicht des Erdbebens, aber der haitianischen Dauerkrise ist laut Gärtner Voodoo:

Dabei erwies es sich als fatal, dass in Haiti der Voodoo-Kult von Anfang an als dem Christentum zumindest ebenbürtig, wenn nicht überlegen angesehen wurde. Die infantile Gleichsetzung des demütigen Betens um göttliche Gnade mit obskurantistischen Beschwörungen und Zaubereien begünstigte die Machtübernahme durch Dynastien kleptokratischer Diktatoren und die damit einhergehende Vernachlässigung von Vorsorge-Investitionen gegen Hurrikane und Erdbeben. Davon hat sich Haiti nicht mehr erholt.

Wären also alle Haitianer fromme brave Christen gewesen (was die meisten von ihnen ohnehin sein dürften), dann wäre Papa Doc nie an die Macht gekommen. Wer’s glaubt ..

Jo@chim vom „A-Team“ glaubt es jedenfalls nicht und gibt der eigentümlichen, aber nicht gerade freiheitsliebenden Kolumne aus (durchaus wirtschaftliberaler) Sicht Kontra: Grevenbroich: der Fluch der salbadernden Frömmler. Jo@chim schreibt als Fazit:

There’s the beef: In Haiti wurden Marktbeziehungen und Zivilgesellschaft – soweit vorhanden – durch eine korrupte Pseudo-Monarchie zerstört. Ökonomischer Fortschritt war so nicht möglich. Anzahl, Art und Vorlieben der jeweiligen Götter sind vielleicht für salbadernde Frömmler interessant, taugen aber nichts als Erklärungsmodell für die Entwicklung einer Gesellschaft (zumindest solange sich die Erweckten nicht gegenseitig an die Kehle gehen). Lassen Sie sich’s vielleicht gelegentlich einmal von einem indischen Software-Ingenieur erklären. Ganesha sei mit Ihnen!

Da bin ich völlig einer Meinung mit Jo@chim!

Weitere interessante Artikel zum Thema:
Haiti und die gefährliche Frage nach dem Warum (Stern.de)

Hilflose Perle der Karibik (FAZ.net)

„Ich fürchte, es wird noch schlimmer kommen“ Der Haiti-Kenner Hans Christoph Buch über die Lage im Katastrophengebiet (D-Radio)

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2 Kommentare
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  1. Danke für die positive Rezension, lieber Martin. Mein (inzwischen auch schon 20 Jahre alter) Net-Nick ist allerdings jo@chim und nicht „jo@achim“ 😉

  2. Ist korrigiert! 🙂

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