Fiktive Bedrohungen

26. Februar 2014 | Von | Kategorie: Gjallarhorn Weblog, Odins Auge Artikel

Ein neue schreckliche Gefahr bedroht UNS ALLE: der TUGENDTERROR!!!
Terror – das ist die systematische Verbreitung von Angst und Schrecken durch ausgeübte oder angedrohte Gewalt. Entführungen, um das gute Benehmen zu fördern? Eiskalte Morde an Menschen, denen es an Pflichtbewußtsein mangelt? Bombenanschläge im Namen der Großzügigkeit?
Was, das ist gar nicht gemeint? Ach so, „Tugendterror“ bezieht sich auf übereifrige Regime, die um die Tugend zu fördern, hunderte angeblich untugendhafte Menschen köpfen lassen, wie im revolutionären Frankreich unter Robespierre. Leben wir unter so einem Regime? Aha, das ist ja nicht wörtlich gemeint, eine kleine Gleichsetzung nur, um die Dramatik der Gefahr zu unterstreichen, und da Hitler-Vergleiche bekanntlich out sind …
Tugendterroristen sind vor allem jene, die ihre publizistische Macht dazu missbrauchen, um einen von sich sehr eingenommenen Ex-Politiker und Bestsellerautor brutal zu unterdrücken, indem sie seine steilen und gern einmal diskriminierenden Thesen respektlos demontieren! Und er hat herausgefunden, dass die Weltanschauung der Journalisten die Art ihrer Berichterstattung beeinflusst. Sensationell, wer hätte das gedacht, danke Captain Obvious, äh, Thilo Sarrazin.
Nun könnte man, als Polytheist, Thilo dem Trotzigen eine gewisse Sympathie dafür entgegenbringen, dass er die Geschichte des „Tugendwahns“ nicht erst bei Rousseau (dessen Denken in direkten Linie zu Stalin führen soll – Hitler ist wie gesagt out) beginnen lässt, sondern aus dem jüdisch-christlichen Monotheismus herleitet. Mag ja sein, dass „Tugendwahn“ und „Moralpanik“ (siehe: Modedroge Moralin) etwas mit religiösem Fanatismus zu tun haben, mag auch sein, dass motheistische Religionen für diese Art Fanatismus anfälliger sind – immerhin ist evident, dass die Überbetonung von Sekundärtugenden wie Disziplin, Fleiß, Ordnungssinn, Pünktlichkeit eng mit dem Protestantismus zusammenhängt – woraus sich, mit Mut zur Verallgemeinerung und Bekenntnis zur Kraft des Klischees, schließen ließe, dass Sarrazin ein streng religiöser Protestant, wahrscheinlich calvinistischer Richtung, sein muss.

Es gibt noch andere Warner vor schrecklichen Gefahren, die uns alle bedrohen, sie warnen vor „Gutmenschtum“, „political correctness“, „Umerziehung durch Gender-Mainstreaming“, „feministische Kampflesben“, vor irgendwelchen „Schwuchteln“, „Nutten“, „Zigeunern“, „Negern“, „Alis“, „Sozialschmarotzern“ usw. usw. die ihnen unverschämterweise das Privileg streitig machen wollen, nach Belieben zu diskriminieren. Das ist diskriminierend, wenn man hierzulande nicht mal mehr richtig diskriminieren darf, jawohl!
Wenn die herbeihysterisierte gefühlte Bedrohung z. B. durch den „Gesinnungsterror dieser Homos“ dazu führt, einzugestehen, homophob zu sein und das auch gut zu finden, sollte man, auch als Hetero, im Interesse der Nervenschonung diese Zeitgenossen Ignorieren – wenn man kann.

Es gibt leider auch eine Klasse fiktiver, herbeihysterisierter Bedrohungen, die sich nicht einfach ignorieren lassen. Weil sie nicht auf den Ängsten alter weißer Männer der gehobenen Einkommensschicht beruhen, sondern unmittelbar Ängste berühren, die fast alle Menschen teilen. Wobei sie durchaus an reale Bedrohungen anknüpfen können – es gibt z. B. Terroristen, aber eine allgegenwärtige Gefahr, Opfer eines Terroranschlags zu werden gibt es, jedenfalls in Mitteleuropa, nicht. Den Schritt von der übertrieben dargestellten Gefahr zur fiktiven Gefahr gelang, als bekannt wurde, es gäbe da einen Sprengstoff, der sich mühelos aus leicht zugänglichen Zutaten zusammenmixen ließe und der außerdem von den gängigen Sprengstoffspürgeräten nicht erfasst würde. (Panikstufe dunkelrot plus!) Das führte zum Verbot, auf Flügen Flüssigkeiten im Handgepäck mit sich zu führen – inzwischen gelockert, aber im Prinzip zur Zeit des Verfassens dieses Beitrags (26.02.2014) noch gültig: Handgepäck – Flüssigkeiten. Ganz konsequent ist diese Vorschrift ja nicht, sie gilt z. B. nicht in Bahnen und Bussen, die rein statistisch gesehen sogar häufiger Sprengstoffanschlägen zum Opfer fallen, als Flugzeuge. Terroranschläge mit dem besagten Sprengstoff – Acetonperoxid (wikipedia) – sind praktisch undurchführbar:

Bei einem geplanten Anschlag auf mehrere Flugzeuge während des Fluges in die USA, der am 10. August 2006 in London verhindert werden konnte, sollte möglicherweise Acetonperoxid verwendet werden.[14] Die Attentäter hätten die Rohstoffe (Aceton und Wasserstoffperoxid) in flüssiger Form in Trinkgefäßen in die Flugzeuge schleusen und dort den Sprengstoff ohne weiteren Katalysator herstellen können.[14] Die Praktikabilität eines solchen Unterfangens wird von Experten jedoch bezweifelt[15]. Ohne Säurekatalyse erfolgt allerdings erst nach mehrtägigem Stehen der Mischung aus Aceton und Wasserstoffperoxid eine Reaktion, wie schon Wolffenstein 1895 nachweisen konnte;[6] es wäre also zusätzlich noch eine Säure benötigt worden. Auch müsste das Peroxid nach der Herstellung von der Lösung abfiltriert werden. Die nachfolgende nötige Trocknung würde mehrere Stunden auf dem Filter dauern. Somit ist die „Flugzeugvariante“ in dieser Ausführung sehr unwahrscheinlich. Ebenso sollte es angeblich in sehr großer Menge (700 kg) bei einem Attentatsversuch in Deutschland verwendet werden. Die tatsächliche Durchführbarkeit dieses Plans ist jedoch sehr kritisch zu sehen. Die extreme Empfindlichkeit des Stoffes verhindert einen tatsächlichen Einsatz wirksam.

Anders gesagt: die Möchtegern-Terroristen hätten sich aller Wahrscheinlichkeit nach schon bei der Sprengstoff-Herstellung selbst in die Luft gejagt – oder, da sie ja eine Autobombe bauen wollten, spätestens bei der ersten Bodenwelle.
Eine fiktive Bedrohung also. Aber eine, die sich tatsächlich auf den Alltag auswirkt!
Fiktive Bedrohungen dieser Art haben auch den „Vorteil“, dass z. B. die Befürworter der strengen Regeln im Umgang mit Flüssigkeiten im Handgepäck stets darauf hinweisen können, dass diese Maßnahmen erfolgreich wären – schließlich hat es noch nie einen Sprengstoffanschlag mit Acetonperoxid in einem Flugzeug gegeben!
Das ist das Prinzip des Elefantenvergrämers:

Ich kratzte mich daraufhin verwirrt an der Nase,
meinte zweifelnd: “Ich habe noch nie auf der Straße
Elefanten gesehen, weil es die hier gar nicht gibt.”
Doch der Mann sagte: “Sehen Sie, somit ist es bewiesen:
meine Technik vertreibt zuverlässig alle grauen Riesen;
die Stadt ist elefantenlos, genau wie man es liebt.
Sonst könnten wir uns, darauf tät‘ ich wetten,
vor lauter Elefanten nicht mehr retten!

Eine weitere fiktive Bedrohung, die mit geradezu ermüdender Vorhersagbarkeit in sämtliche Medien zu finden ist, wenn aus irgend einem Grund das Thema „Kinderpornographie“ (also: Darstellung von sexuellem Missbrauch von Kindern) hochkocht: der „Millardenmarkt Kinderporno“ – den es nicht gibt und, wenn man die Sache mal logisch angeht, auch gar nicht geben kann: Die Mär vom Milliardenmarkt – an den allerdings auch „Experten“ nach wie vor zu glauben scheinen: Der Ekel schaltet Gehirnzellen aus. Wohlgemerkt: Sexuellen Kindesmissbrauch gibt es wirklich, auch Fotos und Filme von solchen in der Tat ekelhaften Verbrechen, und es gibt auch Interessenten für so etwas. Sexuell motivierte Kindesmisshandlung ist eine echte Gefahr – allerdings eine vergleichsweise kleine Untergruppe der Kindesmisshandlungen insgesamt. (Etwas reißerisch, aber informativ: „Deutschland misshandelt seine Kinder“).
Auch sexuell motivierte Kindermisshandlungen finden, was allgemein bekannt ist, was seltsamerweise (oder auch wieder nicht) aber in der massenmedialen Empörung immer wieder sang- und klanglos untergeht, fast immer im „nahen Umfeld“, oft sogar in der Familie statt. Eine Gefahr von aussen, am besten eine, die mit diesem schmuddeligen Internet zu tun hat, scheint als Bedrohungsszenario und als Empörungsvorlage „besser“ geeignet zu sein – selbst wenn sie, wie das „Millardengeschäft mit Kinderpornos im Internet“ fiktiv sind.

Fiktive Bedrohungen sind mehr als fixe Ideen – sonst würden nur einzelne an sie glauben. Manchmal werden sie aus Propagandazwecken erfunden, hin und wieder auch, um Geld zu verdienen, meistens geht es um den Versuch von Menschen aus meist privillegierten Verhältnissen – typischerweise bei uns mit den Merkmalen: „Weiß – abstammungsdeutsch – männlich – heterosexuell“ – die versuchen, ihre eigenen Normen allgemein verbindlich zu machen und politisch-kulturelle Abweichungen vom „akzeptierten Meinungsspektrum“ der „gesellschaftlichen Mitte“ in möglichst engen Grenzen zu halten.

Manchmal können fiktive Bedrohungen zu realen Gefahr werden – zur Verfolgung Unschuldiger, die es, da die behauptete Bedrohung fiktiv ist, schwer haben, ihre Unschuld zu beweisen.
Man spricht dann von „Hexenjagden“ – z. B. im Fall der hysterische Kommunistenjagd der McCarthy-Ära in den USA.

Tatsächlich war die frühneuzeitliche Hexenverfolgung ein Musterbeispiel für eine fiktive Gefahr, die zehntausenden der „Hexerei“ Beschuldigten das Leben kostete.
Es gab differenzierte, geradezu „wissenschaftliche“ Methoden, um hexerische Fähigkeiten nachzuweisen, es gab spezielle Gesetze, es gab offizielle legitimierte Spezialisten für das Hexenwesen, es gab unzählige, darunter hoch gebildete, Menschen, die mit vollem Ernst davon überzeugt waren, dass Teufelspakt und Hexensekten eine konkrete Gefahr für die Gesellschaft wären.
Nur eines gab es die ganze Zeit nicht: Hexen.

Martin Marheinecke

Anmerkung: Menschen. die sich selbst „Hexen“ nennen – es gibt ja einige von der Sorte in der „Nornirs Ætt“ – sind übrigens keine „Hexen“ im Sinne damaligen Ankläger. Zum „Hexereidelikt“ gehörte der Teufelspakt, und der funktioniert nicht. Auch zu einem ordentlichen Schadenzauber, wie ihn damals viele Menschen fürchteten (Ente vernichten, Impotenz anhexen, Todeszauber usw.) sind Hexen nach allgemeiner, auch in Hexenkreisen geteilten Ansicht, nicht imstande. (Manchmal denke ich: leider.)

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