Extremisten, Extremismus und die Totalitarismus-Doktrin

24. Januar 2010 | Von | Kategorie: Das Odins Auge Projekt, Gjallarhorn Weblog

Ein Kommentar von MartinM
Was ist Extremismus? Nach nach der üblichen und quasi offiziellen Definition ist das jemand, der außerhalb der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ steht. Diese Definition ist meiner Ansicht nach unbefriedigend, weil sie die Totalitarismusdoktrin wiederbelebt: Extremisten von „rechts“ und „links“ werden gleichgestellt – und diese wiederum mit religiös motivierten „Extremisten“.

Die Totalitarismusdoktrin ist besser als Totalitarismustheorie bekannt – was meiner Ansicht nach missverständlich ist und Theorien zum Totalitarismus, wie sie etwa Hannah Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft vertritt, in ein falsches Licht rückt.
Die Totalitarismusdoktrin setzt die (ihrerseits untereinander verschiedenen) Systeme des Faschismus mit den „kommunistischen Diktaturen“ gleich – wobei zwischen der UdSSR unter Stalin, China unter Mao oder dem heutigen Nordkorea durchaus Unterschiede bestehen, und die „realsozialistischen“ Staaten vor 1989 zwar durchaus Diktaturen, aber nicht totalitär etwa im Sinne von Arendts Theorie waren.
Es stimmt zwar, dass Faschismus und Kasernenhof-Kommunismus eine Reihe auffälliger formaler und inhaltlicher Ähnlichkeiten haben, und insofern vergleichbar sind. Allerdings vernachlässigt die Totalitarismusdokrin die Ziele politischer Systeme und fragt auch nicht nach der Motivation der politisch Handelnden, sondern beschränkt sich nur auf die äußeren Formen und Methoden der ansonsten sehr unterschiedlichen „totalen Diktaturen“.

Analog zur Totalitarismusdoktrin, die zur Zeit des „Kalten Krieges“ unter anderem dazu benutzt wurde, „realsozialistische“ Staaten zu dämonisieren, hat sich eine Extremismusdoktrin bzw. Extremismustheorie herausgebildet, die auf dem antifaschistischen NPD-Blog ausführlich erläutert wird: Extremismustheorie.
Problematisch am Extremismusbegriff, wie er seit den 1970er Jahren etabliert wurde, ist, dass er, ähnlich der Totalitarismusdoktrin, vollkommen unterschiedlicher Ideologien und Strömungen unter einem Begriff zusammenfasst. Zwischen der NPD und Linkspartei liegen Welten, auch und gerade hinsichtlich ihrem Verhältnis zur Demokratie und Menschenrechten. Dennoch gibt es Extremismustheoretiker, wie etwa Jessen, die beide Parteien in einem Satz aufführen, nur durch die Adjektive getrennt. (Im Übrigen ist die „Linke“ auch nach der Definition des Verfassungsschutzes keine extremistische Partei – denn der VS definiert „extremistisch“ als „auf Abschaffung der Demokratie gerichtet“. Die NPD ist es schon, und steht deshalb auch im Verfassungsschutzbericht.)

Allerdings ist die Extremismusdoktrin nach dem Motto „alles eine Soße“ herrlich bequem, vor allem, wenn man sich in der Mitte der Gesellschaft wähnt: Extremisten stehen da draußen am Rand der Gesellschaft, und in der kuscheligen „demokratischen Mitte“ ist alles in Ordnung. Das dem nicht so ist, thematisierte ich bereits unter Gute Mitte – böse Ränder, auch in meinem Aufsatz Antimonotheismus – Schlüssel zum Verständnis des Rechtsextremismus? ging ich darauf ein.

Zuerst ist es sinnvoll, entgegen dem eindimensionalen Modell „gute Mitte – böser Rand“ zwischen den verschiedenen Formen des „Extremismus“ zu differenzieren – „autonome“ Neonazis und „(testosteron-)autonome Linke“ haben nun einmal trotz gewisser äußerlicher Ähnlichkeit unterschiedliche Ziele und unterschiedliche Feindbilder, und müssen deshalb auch unterschiedlich bekämpft werden. Abgesehen davon gibt es noch die gern verdrängten Tatsache, dass durch „linke Gewalt“ in den letzten 10 Jahren in Deutschland meines Wissens kein einziger Mensch zu Tode kam, während die Blutspur „rechter Gewalt“ unübersehbar ist.

Wer „rechte“ und „linke Gewalt“ in einem Satz nennt und als „gleich gefährlich“ darstellt, dem geht es meiner Ansicht nicht darum, Gewalt zu bekämpfen, sondern – ganz in der Tradition der Totalitarismusdoktrin im Kalten Krieg – darum, (linke) politische Gegner zu dämonisieren und zu kriminalisieren – auch um den Preis, „rechte“ Gewalt zu verniedlichen. Für etablierte Politiker und sonstige politische Entscheider ist die eindimensionale Extremismusdoktrin ein interessantes „Werkzeug“: Kritiker und Gegner der bestehenden Verhältnisse können bequem zu Extremisten gemacht werden, womit die inhaltliche Auseinandersetzung unterbleibt. (Selbst im Falle der Rechtsextemisten, denen es ja tatsächlich um die Abschaffung der Demokratie geht. drückt man sich so z. B. um die gesellschaftlichen Ursachen, die Strukturen, die etwa hinter „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ stehen: „Nazis sind böse – und damit basta!“)
Verlockend ist die Möglichkeit, Kritiker etwa der Flüchtlingspolitik oder Kritiker staatlicher Überwachungsmaßnahmen als “extremistisch” abzustempeln.
Außerdem übersieht diese Auffassung des Extremismus den „Extremismus der Mitte“. Mitglieder von demokratischen Parteien sind damit (beinahe jedenfalls) über jeden Verdacht erhaben, menschenfeindliche oder demokratiefeindliche Einstellungen zu vertreten. (Sonst wäre meines Erachtens zum Beispiel der hessische Ministerpräsident Koch schon längst weg vom Fenster.)

Ebenso fragwürdig ist es, zum Beispiel islamistische Gruppen einfach in die bestehende, eindimensionale Extremismusdoktrin einzupassen – einmal abgesehen davon, dass viele „Islamismuskritiker“ einfach „den Islam“ (den es so, als einheitlichen Block, ebenso wenig gibt wie „das Christentum“) als Religion mit dem „Islamismus“ als politischer Doktrin gleichsetzen. Ein „Alltags-Islamist“, der die (vermeintlichen) überkommenen Werte einer extrem patriarchalischen Gesellschaft hochhält, und deshalb meint, das „Recht“ zu haben, Frauen zu unterdrücken und im Fall, dass sie sich wehren, zu Schlagen und gegebenenfalls umzubringen, ist mit aller Härte des Gesetzes zu bekämpfen. Für den demokratischen Staat ist er allerdings eher ungefährlich. Ganz anders als jene, die ich einmal „Islamofaschisten“ nennen möchte, also Anhänger einer militant antiliberalen, antiwestlichen, antidemokratischen und (beinahe selbstverständlich) antisemitischen Diktatur mit islamischer Verbrämung und einigen je nach politischem Bedarf ausgelegten bzw. zurechtinterpretierten Koranversen. Es gibt dabei Islamisten, die religiöse Fundamentalisten sind, aber auch solche, die nicht dazu neigen, jedes Wort im Koran wörtlich zu nehmen. So, wie es islamische Fundamentalisten gibt, die nichts mit dem politischen Islam am Hut bzw. der Qeleshe oder der Kufiya haben.
Und selbstverständllich gibt es auch „linke“ wie „rechte“ Islamisten – was die eindimensionale und verführerisch „einfache“ Extremismusdoktrin doch etwas kompliziert.

Beim Stichwort „religiöser Extremismus“ ist die Definition – und die Frage der Definitionsmacht – besonders heikel. Einigermaßen handhabbar ist der Extremismusbegriff im Sinne des Verfassungsschutzes nur bei Religionsgemeinschaften und als Religionsgemeinschaften getarnten Organisationen, die erkennbar antidemokratischen Ziele haben. Im Sinne der Extremismusdoktrin wäre aber jede weltanschauliche Gemeinschaft, die weit von der „Mitte“ der etablierten Kirchen und ihren Lesart des Christentums angesiedelt ist, „religiös extremistisch“. Einschließlich übrigens ausdrücklich religionskritischer oder anti-religiöser Organisationen. Überspitzt gesagt: „Jede Sekte ist extremistisch. Und wer Sekte ist, bestimmen wir!“
Die „Katholische Arbeitsstelle für Missionarische Pastoral“ (KAMP), die am 15. Januar 2010 in Erfurt eingerichtet wurde, dehnt den Oberbegriff der „Sekte“, wenn man der Darstellung des hpd folgt, auch auf die laut Grundgesetz den Kirchen gleichgestellten Weltanschauungsgemeinschaften wie den HVD und andere säkulare Organisationen, wie die „Interessenvereinigung Jugendweihe“, aus.
Neue Missionierungs-Offensive im Osten (hpd).
In diesem Sinne ist „selbstverständlich“ auch die Nornirs Ætt eine „extremistische Sekte“, eine ganz üble sogar, denn wir sind nicht nur Neuheiden, sondern auch auf eine Art und Weise organisiert, die überhaupt nicht dem Schema einer Kirche entspricht. Was wir wirklich wollen, spielt bei dieser Art Betrachtung keine Rolle, wie wir zu Demokratie und Menschenrechten stehen, ist beim Begriff einer „extremistischen Sekte“ allenfalls nebensächlich.

Ich halte es für extrem bedenklich, dass die eindimensionale Extremismusdoktrin mit ihrem „gute Mitte, böse Ränder“-Schema, die repressive Mittel gegen jede Art von Systemkritik legitimiert, auch offen von der Bundesregierung vertreten wird.

Einen anderen, meiner Ansicht nach besseren, Ansatz als die eindimensionale „Extremismustheorie“, vertritt Patrick Gensing in einem Kommentar auf NPD-Blog vor: Mutwillige Vereinfachung (npd-Blog)
Gensing schlägt vor, die Haltung zu den Menschenrechten in den Fokus zu rücken. Wer die Würde von Menschen für antastbar bzw. verhandelbar hält oder diese negiert (Verstoß gegen Artikel 1, Grundgesetz), erkennt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte nicht an – und stellt sich somit gegen die UN-Menschenrechtscharta. Diese sollte den Fixpunkt darstellen.

Das ist ein meiner Ansicht nach wirklich vernünftiger und dabei angenehm pragmatischer Ansatz.

Nachtrag: Aus Gibt es Extremismus? Anmerkungen aus politischer Perspektive.:

Mit der Kritik des Extremismusbegriffs wird oft – nahe liegender weise – die Forderung verbunden, auch auf den Begriff des „Rechtsextremismus“ zu verzichten. Gleichwohl verwenden auch ich alltagssprachlich dieses Wort, ohne im gleichen Atemzug die „Extremisten von links“ nennen zu müssen. „Rechtsextremismus“ fungiert dann als Sammelbegriff für
– autoritäre, antidemokratische Einstellungen
– einen völkischen Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus
– weitere menschenfeindliche Einstellungen, die auf Ungleichwertigkeitsvorstellungen beruhen, wie Sexismus und Homophobie
– Antiindividualismus und Ablehnung des gesellschaftlichen und politischen Pluralismus.

Nicht alle, die diesen Einstellungen ganz oder teilweise anhängen, sind Nazis. Der Begriff „Nazismus“ ist als Sammelbegriff also ungeeignet. Der Begriff „Faschismus“ erst recht!

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2 Kommentare
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  1. […] Es ist offensichtlich, dass dieses Denken nicht allein in Extremismusklauseln Ausdruck findet. Über Frau Schwan hinausgehend bin ich der Ansicht, dass aus ihnen nicht ausschließlich durchsichtige politisch-taktisches Überlegungen sprechen. Da handeln meiner Ansicht nach “Überzeugungstäter”, die tatsächlich an die heile Welt der “normalen”, braven Bürger in der “Mitte der Gesellschaft” glaubt, und Menschen abseits eines “Normalistätskorridors” gefährlich sind: Extremisten, Extremismus und die Totalitarismus-Doktrin. […]

  2. […] Hinter diesem Fehlgriff des Verfassungsschutzes steckt meiner Ansicht nach mehr als nur Schlamperei. Dahinter steckt die Extremismustheorie, die von einer “guten Mitte” und “bösen – sprich extremistischen Rändern” der Gesellschaft ausgeht. Das wäre auch eine plausible Erklärung für den Zwiespalt in den Aussagen der Verfassungsschützer: einerseits schätzen sie die Anti-Neonazis-Aktivitäten von MittenDrin – das halte ich für glaubwürdig, denn es geht gegen den “Extremismus von rechts”. Anderseits vermute ich, dass das alternative Jugendprojekt nicht so ganz der Vorstellung der Verfassungsschützer von “Mitte der Gesellschaft” entsprach – woraus sich der gedankliche Kurzschluss ergäbe: “anti-rechtsextrem und links, jedenfalls nicht brave Mitte: also linksextrem”. (Hierzu auch Extremisten, Extremismus und die Totalitarismus-Doktrin.) […]

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