Dion Fortune: Die Seepriesterin

24. Oktober 2009 | Von | Kategorie: Romane

Dion Fortune
Die Seepriesterin
Erstaufl. 1938 / Smaragd Verlag
Dritte Aufl. 2003 / Smaragd Verlag ISBN: 3926374128

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Titelbild der deutschen Ausgabe
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Titelbild der englischen Ausgabe

”In jener Nacht war See nicht See und Land nicht Land, sie schienen ein und dasselbe zu sein, so wie es gewesen war, als der Geist Gottes über den Wassern schwebte.”

Über die Autorin
Dion Fortune wurde 1890 als Violet Mary Firth in Nord Wales geboren. Schon früh interessierte sie sich für Psychoanalyse und das Okkulte. 1919 tritt sie in den Hermetic Order of the Golden Dawn ein, und zwar in die Alpha und Omega Lodge, später wechselt sie zur Stella Matutina Lodge. In dieser Zeit beginnt Fortune ihre Erfahrungen niederzuschreiben. Machinery of the Mind, The Soya Bean, The Psychology of the Servant Problem, The Problem of Purity, The Esoteric Philosophy of Love and Marriage, Sane Occultism, The Esoteric Orders and their Work, The Training and Work of an Initiate, The Cosmic Doctrine, Psychic Self Defense, The Secrets of Dr. Taverner und The Demon Lover sind das Ergebnis davon. Außerdem tritt Dion Fortune der Theosophischen Gesellschaft bei und wird deren Präsidentin. Bald verwirft sie sich mit einflussreichen Mitgliedern derselben und gründet “The Circle of the Inner Light”. In dieser Periode, zwischen 1930-40, entstehen die wichtigsten Werke Dion Fortunes: Avalon of the Heart, Spiritualism in the Light of Occult Science, Through the Gates of Death, Practical Occultism in Daily Life, Mystical Meditations on the Collects, The Mystical Quabalah sowie die Romane The Winged Bull, The Goat-Foot God und The Sea Priestess.
“The Sea Priestess“ oder auf Deutsch „Die Seepriesterin“ wird erstmals in den 30er Jahren veröffentlicht und wurde auf Grund des etwas brisanten Themas von keinem Verlag angenommen, so dass Dion Fortune das Buch selbst herausbringen musste, was unter Berücksichtigung der damals in England noch geltenden “Witchcraft Laws” eine ausgesprochen delikate und riskante Angelegenheit war. In den letzten Jahren ihres Lebens fügt sie ihrem Schaffen noch Moon Magic, The Magical Battle of Britain, An Introduction to Ritual Magic, The Circuit of Force und Principles of Hermetic Philosophy hinzu. Ihre Texte zu Arthur Tradition sind in Secret Tradition in Arthurian Legend von Gareth Knight zu finden, der auch andere ihrer Schriften editiert hat.
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Dion Fortune

Über das Buch
Die Seepriesterin (engl. „The Sea Priestess“) ist Vivian Le Fay Morgan, die das Anima-Animus Prinzip verkörpert, so wie auch die Autorin im Vorwort dazu schreibt:

“All women are Isis, and Isis is all women”

Die Seepriesterin ist Dienerin der Isis, sie betet die Gezeiten an und inkarniert das weibliche Prinzip der Erde. Zu ihrer Vollkommenheit benötigt Isis ihren männlichen Part – Wilfred Maxwell, ein rückgradsloser, von seiner Mutter und seiner Schwester verhätschelter Junggeselle, chronisch krank und ohne Vision für sein Leben. Das Buch ist in der Ich-Form geschrieben. Es beginnt mit Maxwells Schilderung seines farblosen, von Krankheit gezeichneten Lebens, bis Vivian Le Fay Morgan darin auftaucht, in die er sich verliebt.

Vivian ist meines Erachtens nach ein unnahbarer, kühler, ja sogar kalter Priesterinnencharakter in Verkörperung von Le Fay Morgan, der Halbschwester Artus. Sie schlägt Maxwell eine Art von Tauschhandel vor, in dem sie von ihm erhält, was sie braucht und er erhält, was er braucht – nämlich die Vervollständigung seiner farblosen, unbewussten Persönlichkeit. Über die markante Persönlichkeit der Seepriesterin schreibt Fortune selbst in ihrem Vorwort:

„Ein Rezensent eines meiner früheren Bücher hat bedauert, daß ich meine Charaktere so wenig liebenswert gestalte. Dies war für mich eine große Überraschung, denn nie zuvor war ich auf die Idee gekommen, meine Charaktere wären nicht liebenswert. Was für Typen muß man denn bringen, damit die Leser sie mögen? Im wirklichen Leben muß man ja auch mit ihren Fehlern klarkommen, denn schließlich haben sie auch Vorzüge. Warum sollte dies in der Literatur anders sein?“ S. 5

Was mit dem Abschluss dieses “Tauschhandels” beginnt, ist eine Reise, die sich der Leser niemals erwartet hätte. Es ähnelt einer Achterbahnfahrt quer durch die Psyche Wilfreds, taucht ab in seine früheren Leben und stößt in Tiefen vor, die für ihn davor nicht existent waren. Die Seepriesterin ist die Reiseleiterin, die darauf bedacht ist, einen Raum zu schaffen, wo sich die Mysterien in ihrer vollen Größe manifestieren können.

Doch das Buch „Die Seepriesterin“ ist sogar noch mehr als nur die von einer Frau geführte Suche eines einzelnen Mannes nach der Erleuchtung. Es reklamiert altes, spirituelles Wissen, ist ein “Reiseführer” zu den alten Mysterien, deren Erfahrung und Erforschung sich die westlichen Geheimgesellschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts widmeten. Dazu ein Beispiel:

„Der dreimal große Hermes hat in die Smaragdene Tafel eingraviert: ‚Wie oben, so unten.‘ Auf der Erde sehen wir die Spiegelung der himmlischen Gesetze im Verhalten von Mann und Frau. Alle Götter sind ein Gott, und alle Göttinnen sind eine Göttin, und es gibt nur einen Schöpfer.“ Am Anfang waren Raum und Dunkelheit und Ruhe, älter als die Zeit und von den Göttern vergessen. Die See des unendlichen Weltraums war die Quelle allen Lebens; Leben entstand wie eine Flutwelle in der unergründlichen See. Alles wird dorthin zurückkehren, wenn die Nacht der Götter kommt. Dies ist die große See, Marah, die Bittere, die Große Mutter. Und wegen der Trägheit des Raums entstand zuerst die Bewegung als Ebbe und Flut, die von den Weisen das ‚passive Prinzip‘ der Natur genannt wird, die dies als kosmisches Wasser oder fließenden Raum verstehen.“ S. 181

Ein kleiner Ausschnitt aus den schlichtweg atemberaubenden Schilderungen, die einem ziemlich alten, englischen Schreibstil abgefasst sind und – was meiner Ansicht nach auch keinen Zweifel daran lässt, dass Dion Fortune es selbst so erfahren hat – des großen Rituals, dem Kernpunkt des Buches (S. 176 ff.) Besonders was die Anrufungen anbelangt, ist die englische Version um einiges lebhafter und essenzieller als die deutsche Übersetzung, die leider etwas verwässert ist.

„I am she who ere the earth was formed
Was Ea, Binah, Ge
I am that soundless, boundless, bitter sea,
Out of whose deeps life wells eternally.

Astarte, Aphrodite, Ashtoreth
Giver of life and bringer-in of death;
Hera in Heven, on earth, Persephone;
Levanah of the tides and Hecate
All these am I, and they are seen in me.

The hour of the high full moon draws near;
I hear the invoking words, hear and appear
Isis Unveiled and Ea, Binah, Ge,
I come unto the priest that calleth me.“

„O thou that wast before the earth was formed
Ea, Binah, Ge.
O tideless, soundless, boundless, bitter sea,
I am thy priestess, answer unto me.

O arching sky above and earth beneath,
Giver of life and bringer-in on death,
Persephone, Astarte, Ashtoreth,
I am thy priestess, answer unto me.”

Sowohl die See als auch die ewige Wiederkehr der Gezeiten stellen ein zentrales Thema dar und sind Metapher für die ewig wiederkehrenden Zyklen der Natur und der Mechanismen, die auch die menschliche Psyche leiten. So, wie auf die reinigende, alles hinweg nehmende Flut die Ebbe folgt, so folgt auf die Krise neues Licht.
Dion Fortune drückt auf der einen Seite ganz klar – und manchmal auch etwas langatmig – aus, was die Priesterin der Isis darstellt, was ihre Aufgaben und Bedürfnisse sind, um ihre Mission zu erfüllen. Maxwell zum Gesang der Isis, als er zu verstehen beginnt:

„Dann sang sie, und ich wußte, es war Isis, entschleiert und voller Energie: „Ich bin der Stern, der aus der See aufsteigt – der dämmrigen See. Ich bringe den Menschen Träume, ihr Schicksal weisend. Ich bringe die Träume zu den Seelen der Menschen; den ewigen Wechsel von Ebbe und Flut und wieder Ebbe – Das ist mein Geheimnis, es ist mein. Ich bin die Ewige Frau, ich bin sie! Geburt und Tod aller menschlichen Seelen sind mein. Der ewige Wechsel von Ebbe und Flut und wieder Ebbe – Die stillen, inneren Strömungen, die die Menschen regieren, Sie sind mein Geheimnis, sie sind mein. Aus meinen Händen empfängt er sein Schicksal. Die Berührung meiner Hände wird zu Energie. Dies sind die Gezeiten des Mondes, sie sind mein“. S. 179

Das Buch wirkt so, wie die Seepriesterin als Isis spricht:

“Ich bin die gezeitenlose, tiefe, rauhe See”.

Fazit
„Die Seepriesterin“ ist in der Tat ein trockenes, graues Buch. Wer sich einen spannenden und fesselnden Esoterikroman erwartet, bei dem er danach erleuchtet, glücklich und zufrieden ist, wird vermutlich vergeblich danach suchen. Doch es ist hervorzuheben, dass das Buch, mehr als 70 Jahre (!) nach seiner Ersterscheinung, ein zeitloser, klassischer Roman über Magie und somit einer der Schönsten dieses Genres ist. Das Buch geht in die Tiefe, wirkt zwischen den Zeilen, wo sich der Sinn des Werkes verbirgt.
Die Seepriesterin lässt sich daher auf viele verschiedene Arten lesen. Da es sich um eines meiner unumstrittenen Lieblingsbücher handelt, muss ich es mindestens einmal pro Jahr lesen. Es wirkt auf mich immer ähnlich, aber niemals gleich. So wie auch Ebbe und Flut niemals gleich sind!

„Wer nicht zurückkehren kann zum Ursprung, hat im Leben keine Wurzeln, sondern vertrocknet wie Gras.“ S. 182

Alle, die bei der „Seepriesterin“ Feuer gefangen haben, sollten „Moon Magic“ lesen, eine Fortsetzung dieses Buches, in dem Vivian Le Fay Morgan unter dem Namen Lillith zurückkehrt.

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