Die Sachsenkriege (Teil 2)

28. September 2008 | Von | Kategorie: Erforscht & Entdeckt

Die ersten Feldzüge der Sachsenkriege (772 – 776)
König Karls erster Feldzug gegen die Sachsen im Jahre 772 war eine Demonstration militärischer Macht, eine Fortsetzung der überfallartigen Sachsenzüge seines Vaters Pippin.
Nur wenige Monate, nachdem er Alleinherrscher über das fränkische Reich geworden war, führte er seine Truppen über das heutige Mittelhessen in die südlichen Teile Sachsens. Karl ahnte wahrscheinlich nicht, dass er damit einen blutigen Krieg entfesselt hatte, der erst nach 33 Jahren – oder 38 Jahren bis zur endgültigen Eingliederung aller Sachsen – und mindestens 17 Feldzügen beendet sein wird.
Sachsen um 800

Die Sachsen hatten weder den Reiterattacken noch den Belagerungstruppen viel entgegenzusetzen. Schnell eroberten die Franken eine der wichtigsten sächsischen Fliehburgen, die Eresburg über dem Demiel (heute Marsberg, bei Paderborn). Karls Heer zog, offenbar ohne nennenswertem Widerstand zu begegnen, in Richtung Weser. Dabei ließ Karl das „Götzenbild“ Irminsul, das wichtigste Heiligtum im südlichen Sachsen, zerstören. Wie diese legendäre Säule aussah, und wo sie sich genau befand, ist nicht bekannt. Die Hypothese, dass sie auf oder bei den Externsteinen stand, ist nicht durch historische Zeugnisse oder archäologische Funde erhärtet; auch die weit verbreitete Ansicht, dass das Kreuzabnahmerelief an den Externsteinen die gestürzte Irminsul darstelle, ist Spekulation. Keine Spekulation ist, dass dieser Gewaltakt den heidnischen Sachsen die Machtlosigkeit ihrer Götter demonstrieren sollte. (Aus demselben Grunde fällten Missionare so gerne heilige Bäume.) Außerdem fielen den Franken beim Ausplündern des Heiligtums die reichen Opfergaben in die Hände.
Nach vollzogenem Zerstörungswerk zog die Armee Karls zur Weser, plündernd und verwüstend, wie die Reichsannalen ausdrücklich vermerken.
Die Machtdemonstration wirkte: Karl empfing eine Delegation sächsischer Edelinge, die ihm für künftiges Wohlverhalten zwölf Geiseln stellte. Anschließend zog er sich mit seinem Heer in zurück. Offen bleibt, ob er schon damals eine mehr oder weniger friedliche „Eingliederung“ Sachsens geplant hatte oder vorerst nur Ruhe an der Nordostgrenze haben wollte.

Drei Jahre später überfielen sächsische Trupps erneut die fränkischen Grenzgebiete rechts des Rheins, wobei ihre Kriegsführung über die bisherigen Raubzüge – blitzschnell zuschlagen und mit Beute beladen in weglosen Wäldern verschwinden – hinausging. Die Sachsen erstürmten erfolgreich fränkische und fränkisch besetzte Burgen und griffen offensichtlich gezielt Kirchen an, die sie in Brand steckten und die dazugehörigen Priester töteten – möglicherweise als Racheakt für die Zerstörung der Irminsul.
Karl erfuhr in Italien von diesen Raubzügen, berief einen Reichstag nach Worms und legte einen denkwürdigen Schwur ab. Er wolle das treulose und vertragsbrüchige Volk der Sachsen so lange bekriegen, bis es entweder vertilgt wäre oder das Christentum übernommen habe.
Aus diesem Schwur einen geplanten Völkermord abzuleiten, oder anzunehmen, Karl hätte einen „Religionskrieg“ geführt, ist eine glatte Überinterpretation: Karl kannte den Propagandawert markiger Sprüche, die „Verteufelung“ des Gegners entschuldigte außerdem brutales militärisches Vorgehen. Karl wollte christianisieren, weil er Sachsen nur durch den Klerus beherrschen konnte. Schon sein alles andere als frommer Großvater Karl Martell unterstützte Winfrid Bonifatius, weil durch dessen Kirchenverwaltung die rechtsrheinischen Reichsteile erst regierbar gemacht worden waren. Karls Ziel nach 775 war gleichrangig Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen – das eine bedingte das Andere.

Von Düren aus führte Karl eine weitaus größere Armee als beim ersten Feldzug nach Sachsen – Militärhistoriker gehen von 5000, vielleicht sogar 10000 Mann aus, was für die damaligen Verhältnisse eine beachtliche Streitmacht war. Das Heer folgte dem Lauf der Ruhr, eroberte anscheinend mühelos die Sigiburg (vermutlich bei Werden an der Ruhr) und die wiederhergestellte Eresburg. Abgesehen davon stießen die fränkischen Truppen ins Leere. Auch nach dem Überschreiten der Weser waren weit und breit keine sächsischen Krieger zu sehen. Im tiefsten Sachsen, im Harzvorland der Oker, erlebte Karl eine angenehme Überraschung: Der Ostfalenherzog Hassio tauchte im fränkischen Feldlager auf und erklärte sich ohne Umschweife bereit, die Herrschaft anzuerkennen.
Karl war über diesen kaum noch erwarteten Erfolg so erfreut, dass er seinerseits keine Bedingungen stellte – und sogar auf die Christianisierung vorerst verzichtete. Das Spiel wiederholte sich auf dem Rückmarsch: bei Bückeburg ergab sich der Egernherzog Bruno kampflos. Aus Karls Sicht – der Sicht eines Herrschers eines Staates mit relativ klaren Machtverhältnissen und entwickelter Zentralgewalt –schien das Ziel greifbar nahe zu sein. Allerdings war Sachsen alles andere als ein „wohlgeordneter“ Staat – und der westfälische Herzog (im Sinne eines Heerführers, nicht eines Fürsten) Widukind (auch als Widochind, Wittekind oder Weking bekannt) war zum Kampf entschlossen.

In der Gegend von Lübbecke gelang es einer westfälischen Truppe eine fränkische Abteilung zu überwältigen. Nach siegreichem Gefecht schloss Widukind mit den überlebenden Franken einen förmlichen Friedensvertrag. Karls überlegene Armee konnte den abziehenden Gegner jedoch einkreisen und stellen, worauf auch Widukind einen Eid auf die fränkische Reichsgewalt ablegte. Allerdings war auch in diesem Vertrag von einer Christianisierung nicht die Rede. Die Mönche und Priester die die fränkischen Truppen begleiteten, unter ihnen Angelsachsen, die die Sprache und Mentalität ihre festländischen Stammverwandten kannten, kamen auf diesem Feldzug noch nicht zum Zuge. Das Ergebnis war also ein (ungleiches) Bündnis, noch keine Unterwerfung. Trotz seiner markigen Sprüche zeigte sich Karl als pragmatischer Machtpolitiker.

776, weniger als ein Jahr später, Karl hatte gerade wieder Italien erreicht, erhielt der Frankenkönig eine alarmierende Nachricht: Sachsen hätten die Eresburg zurückerobert und die fränkische Besatzung fortgejagt. Wie üblich in fränkischen Annalen erscheinen die Sachsen als einheitliches, zentral regiertes Volk – aus Verkennung der wirklichen Situation oder vielleicht um ein einheitliches Feindbild zu schaffen.
Karl machte seine Truppen im nördlichen Reichsteil mobil und ließ sie nach Sachsen einfallen. In der Nähe der Lippequellen kamen zahlreiche – nach Auskunft der Annalen Tausende – Sachsen der fränkischen Armee entgegen – nicht um zu kämpfen, sondern um ihre Unschuld zu beteuern. Sie ließen sich sogar bereitwillig taufen, ohne das allerdings eine religiöse Unterweisung erfolgt war, so dass von einer „Bekehrung“ eigentlich nicht die Rede sein kann. Karls Christianisierungs-Programm sah zuerst die Taufe als Akt der Unterwerfung unter das fränkische „System“ vor, in dem Staat und Kirche praktisch identisch waren. Der „Religionsunterricht“ konnte warten, der Taufwilligkeit wurde nicht selten mit Gewaltandrohung nachgeholfen („Mission mit der eisernen Zunge“). Entscheidend war, dass die neuen „Christen“ sich nach erfolgter Taufe strikt an kirchlichen Vorschriften und Gesetzen zu halten hatten. Abfall vom Glauben galt als Treulosigkeit gegenüber dem fränkischen König und wurde als Hochverrat geahndet.

Spätesten zu dieser Zeit musste Karl erkannt haben, dass er trotz der Kollaborationsbereitschaft vieler sächsischer Edelingen und sicher auch eines Teils der bäuerlichen Bevölkerung den Krieg mit gelegentlichen Feldzügen nicht gewinnen konnten. Er – oder wahrscheinlicher seine gelehrten Berater – griffen auf die Methoden der Römer zurück. Die Franken errichteten in Sachsen ein System aus befestigten Stützpunkten. Dabei besetzten sie zunächst die eroberten sächsischen Fliehburgen und ergänzten diese durch neue Festungen, die im Abstand von ca. 20 Kilometer errichtet wurden (etwa einem Tagesmarsch der fränkischen Fußtruppen). Man hielt sich so genau an das römische Vorbild, dass lange Zeit diese karolingischen Curtes selbst von Fachleuten für römische Kastelle aus der Zeit der Germanenkriege gehalten wurden. Diese Kastelle waren ständig besetzt, die umliegenden Bauern wurden verpflichtet, sie zu versorgen. Die Militärstützpunkte wurden durch zahlreiche Kirchen als Missions- aber auch Verwaltungszentren, ergänzt. Vor allem bei den Edelingen hat die Bekehrung durchaus Erfolg. Neben pragmatischen Erwägungen politischer Art führte eine ebenfalls pragmatische spirituelle Einstellung viele Sachsen zur Taufe: Die Anhänger des Christengottes waren siegreich, also muss dessen Heil wohl stärker sein als das von Wodan, Donar und Saxnot. Wahrscheinlich nahmen viele Jesus Christus als zusätzlichen segenbringenden Gott in ihr persönliches Pantheon auf, ohne den anderen Götter abzuschwören. Auch in Sachsen existierten „alte Sitte“ und neuer Glaube, wie sich aus Grabanlagen ersehen lassen, lange Zeit nebeneinander her, bis im hohen Mittelalter, zur Zeit der Kreuzzüge, Ketzerkriege und Inquisition, eine „zweite Christianisierung“ einsetzte.

Die Eskalation des „Kolonialkrieges“ (777 – 782)
Im Jahr 777 fand im wichtigsten dieser fränkischen Zentren, der „Karlsburg“ (Paderborn), die erste fränkische Reichsversammlung auf okkupiertem sächsischem Gebiet statt. Dieser „Reichstag“ war eine Versammlung der „Großen“ des Frankenreiches, begleitet von einer für damalige Verhältnisse gewaltigen Heerschau. Eine wirksame Machtdemonstration, die den Sachsen die Stärke, Disziplin und überlegene Ausrüstung der fränkischen Armee deutlich vor Augen führte. Da Karl auch Vertreter der römischen Kurie und ausländische Gesandte, darunter sogar Delegationen aus dem arabisch beherrschten Spanien, auf frisch erobertem Gebiet empfing, ging die Machtdemonstration nicht nur in Richtung der neuen Untertanen: Karl präsentierte sein Reich als siegreiche militärische Großmacht.

Zum „Reichstag zu Paderborn“ erschienen, unter der Führung ihrer Edelinge, ganze Trupps taufwilliger Sachsen. Angeblich ließen sich Tausende in die Paderquellen eintauchen. Der Grund der Massentaufe lag sicher nicht in einer plötzlich erwachten Leidenschaft für das Christentum, sondern die Sachsen überließen sich der Gewalt des Königs, wie es in den karolingischen Annalen heißt. Die Massentaufe war also ein politischer Akt.

Karl glaubte, mit der Eidesleistung und Taufe sei die Arbeit getan, aber er irrte, da er wieder einmal übersah, dass es bei den Sachsen niemanden gab, dessen Eid Untertanen binden könnte. Herzog Widukind fehlte in Paderborn, sondern weilte bei seinem Schwager, dem dänischen Heerkönig Sigfrid – Widukind hatte also weder für sich noch für andere geschworen.
Karl schien sich sehr sicher gewesen zu sein, er habe die Sachsen endgültig unterworfen, anderenfalls hätte er sich wohl kaum in sein „spanisches Abenteuer“ gestürzt. Der sonst so geschickte Politiker und Stratege Karl ließ sich durch Suliman al Arabi zum Eingreifen in einen innerarabischen Konflikt überreden. Er bat den Frankenkönig um Hilfe gegen den Emir Abd ar-Rahman, der den Norden Spaniens beherrschte. Der Feldzug endete in einem Desaster und zog neben der heroischen Sage um Karls „Paladin“ Roland viele beschönigende Legenden nach sich, die vor allem das Bündnis mit Moslems und das militärische Versagen gegen die „dritte Partei“ in diesem Krieg, die Basken, bemäntelten.
Die Sachsen – besser gesagt: freie Bauern aus dem „Schwarm“ der Westfalen unter Herzog Widukind – nutzten die günstige Gelegenheit zum Aufstand gegen die fränkischen Eroberer.

Für die fränkischen Chronisten und nachgeborene Karl-Fans bis in die Gegenwart war Widukind – solange er sich nicht unterworfen hatte – der Bösewicht schlechthin: ein eidbrüchiger Hetzer, verstockter Teufelsanbeter, brutaler Strauchritter, zu jeder Schadtat fähig. Für Karl-Hasser, ebenfalls bis in die Gegenwart, war er ein aufrechter Freiheitskämpfer, Freund der einfachen Bauern, politisches und militärisches Genie, grundehrlich und vornehm gesinnt – und seit der Renaissance auch Verteidiger des edlen Germanentums. Seine Unterwerfung und Taufe wird von diesen Kreisen gern schamhaft übergangen.
Tatsächlich war Widukind ein geschickter Guerillaführer, hatte ohne Zweifel Charisma, konnte politisch denken und war wahrscheinlich – im Unterschied zu vielen anderen Partisanenchefs bis in die Gegenwart – kein Fanatiker.
Ob der Herzog wirklich von Anfang an der Organisator des erbittert geführten Aufstands war, ist keineswegs sicher, vermutlich wuchs ihm die Führungsposition erst im Laufe des Krieges zu. Da die Freibauern und Liten nichts von der fränkischen Feudalordnung hatten, sahen sie in Frankenherrschaft und der „Mission mit der eisernen Zunge“ die Bedrohung ihrer persönlicher Freiheit und ihres Wohlstands und ließen sich, im Gegensatz zu den Edelingen, gern zum Kampf überreden. Dennoch hatte Widukind niemals die absolute Kommandogewalt über seine Truppen, er war Anführer kraft seines Charismas und der Zustimmung der Bauernkrieger und musste wahrscheinlich oft überzeugen und Kompromisse eingehen, anstatt wie ein General einfach befehlen zu können.

Der „Sachsenaufstand“ von 778 war blutiger und härter als alle vorherigen sächsischen Kriegshandlungen. Die Überfälle richteten sich nicht allein gegen die Besatzungstruppen und die neu errichteten Kirchen, sondern griffen auf das schon lange fränkische Rheinland über. Im Grenzland zwischen Deutz und Niederlahnstein verwüsteten sächsische Krieger zahlreiche fränkische Dörfer. Ein zweiter Angriff erfolgte einige Monate später, in Hessen. Schwerpunktmäßig wurden Kirchen und Klöster angegriffen und zerstört. Sogar das tief im Landesinneren gelegene Kloster Fulda geriet in Bedrängnis, worauf die Mönche die Gebeine des Winfrid Bonifatius evakuierten. Einem fränkischen Heer gelang es, die Sachen an der Eder abzudrängen, so dass Fulda die Brandschatzung erspart blieb.
Bei diesen Aktionen ist es eher unwahrscheinlich, dass die der „alten Sitte“ verhafteten Sachsen das Christentum als Religion bekämpfen wollten – ihr Angriff auf Klöster und Kirchen galt den fränkischen Machtzentren. Die sächsische Guerillataktik – blitzschnell und überraschend Zuschlagen, eben so schnell wieder verschwinden, offene Feldschlachten möglichst vermeiden, und dort angreifen, wo unwegsames Gelände das Herzstück der fränkischen Militärmacht, ihre sonst schier unüberwindlichen Panzerreiter, nicht zum Zuge kommen ließ – war überaus erfolgreich.

Der fränkische Gegenschlag erfolgte erst im Jahre 779 – und war ein Gegenschlag ins Wasser. Die Angriffe gingen ins Leere. Lediglich bei Bocholt wage ein Häuflein Westfalen, sich Karls Truppen entgegenzustellen – und wurden erwartungsgemäß aufgerieben, hielt den Vormarsch der Franken allerdings für eine möglicherweise wertvolle Zeit auf. Wahrscheinlich nutzten die sächsischen Aufständischen ihre Beweglichkeit und ihr besseres „Kommunikationsnetz“, um den Franken immer einen Schritt voraus zu sein. Den klassischen Vorteil des Guerillakämpfers, sich „im Volke wie ein Fisch im Wasser“ zu bewegen, machten sich die Aufständischen offenkundig wirksam zunutze: Überall fanden die fränkischen Patrouillen nur brave, friedliche Bauern, die nichts von Rebellen wussten. Die Edelinge Ostfalens und Engerns beschworen, wahrscheinlich wahrheitsgemäß, ihre Unschuld – und Widukind war anscheinend allgegenwärtig, aber nirgends zu finden.
Der Widerstand der sächsischen Bauern richtete sich nicht nur gegen die Franken und christliche Missionare, sondern durchaus auch gegen jene einheimischen Edelinge, die aus Eigeninteresse kollaborierten.

Karl ließ angesichts des Widerstandes hart durchgreifen. 782 machte er mit der Unterwerfung der „wilden und treulosen“ Sachsen ins fränkische Reich Ernst, blutigen Ernst. Er berief eine Reichsversammlung der fränkischen „Großen“, ins westfälische Lippspringe, nahe dem Aufstandsgebiet, ein – selbstverständlich begleitet von einem großen Heeresaufgebot. Die Versammlung arbeitete eine Art Besatzungsrecht aus und beschloss, die fränkische Grafschaftsverfassung zumindest teilweise einzuführen. Das eroberte Gebiet wurde in Grafschaften aufgeteilt. Den aus dem fränkischen Adel stammenden Grafen, ergänzt durch kollaborierende sächsische Edelinge, unterstanden das Gerichtswesen und das Heeresaufgebot. Diese Grafen setzten damit überkomme Rechte außer Kraft. Die Aufsicht über die Verwaltung legte Karl allerdings in die Hände von Priestern, denen er aus gutem Grund mehr traute. Volksversammlungen wie das Thing von Marko wurden verboten.

Besonders folgenschwer war die die Erhebung des Kirchenzehnten. Karls Ratgeber Alkuin – ein angelsächsischer Gelehrter, ab 796 Abt des Martinsklosters in Tour und enger Vertrauter des Frankenkönigs – warnte seinen König vergeblich vor diesem voreiligen Schritt. Alkuin als Angelsachse kannte offensichtlich die Mentalität der Sachsen besser als der Frankenkönig. Aus sächsischer Sicht gab es keinen Unterschied zwischen Abgaben an die Kirche und den fränkischen Fiskus, angesichts der engen Verzahnung von Staat und Kirche nicht einmal zu Unrecht. Eine Abgaben nicht nur ein Zehntels alle Ernteerträge, sondern ausdrücklich ein Zehntels aller Habe muss für die meisten Sachsen, die so etwas wie Steuern bisher nicht gekannt hatten, wie glatte räuberische Erpressung gewirkt haben.

Wahrscheinlich ebenfalls schon 782 wurde die undatierte Capitolatio de partibus Saxoniae verabschiedet, ein wahrhaft grausiges Paragraphenwerk. Sie ist berüchtigt dafür, dass sie noch großzügiger mit der Todesstrafe umging als die in dieser Hinsicht sprichwörtliche drakonische Gesetzgebung des vorklassischen Athens: Jeder dritte Satz endete mit einer Todesdrohung. Auch die „minderen Strafen“ waren drastisch und führten beinahe zwangsläufig zur Verarmung des Verurteilten zugunsten der Kirche. Die Capitulatio verbot jeden heidnischen Kult, jede öffentliche Versammlung, verlangte die Auslieferung aller „Wahrsager“ und „Zauberer“. Auf Fleischgenuss während des vierzigtägigen Fastens vor Ostern stand der Tod, ebenso auf Feuerbestattung. Wer sich der Taufe entzog und freiwillig Heide blieb, war des Todes, ebenso jeder, der sich mit Heiden verbündete. Selbstverständlich stand auf Untreue gegenüber dem König ebenfalls die Todesstrafe.
Da die Gerichtsbarkeit ausschließlich in der Händen der Grafen und Priester lag, lebten die Sachsen unter der Capitulatio eigentlich nur auf Widerruf – sie konnten jederzeit vor Gericht zitiert und abgeurteilt werden.

Wahrscheinlich war genau das der Effekt, den Karl beabsichtigt hatte. Er ließ absichtlich ein kleines Schlupfloch im engmaschigen Netz des Terrors: Er ermächtigte die Kirche, Verfolgten Asyl zu gewähren und bußfertige Sünder zu begnadigen, ungeachtet der Schwere ihrer Sünden. Ein skrupelloser, aber genialer Trick, denn er zwang die Sachsen, sich mit den Priestern des neuen Glaubens, die zugleich „Beamte“ der Franken waren, gut zu stellen und in Demut den „mit der Gnade Gottes“ erhobenen Zehnten abzuliefern – andernfalls drohte früher oder später der Tod aus irgend einem nichtigen Anlass oder auf bloße Denunziation hin.

Sogar in der engsten Umgebung Karls stieß diese Rigorosität auf Vorbehalte: Alkuin mahnte in einem Brief Zurückhaltung an und protestierte mehrmals gegen die Praxis der gewaltsamen Bekehrung. Allerdings bezeichnete auch er Sachsen als „Stammsitz des Teufels“ und begrüßte die Unterwerfung und gegebenenfalls Bestrafung der „treulosen Heiden“.
Die Idee des „Terrors mit Schlupfloch“ der Capitulatio setzte allerdings eine erfolgreiche und lückenlose militärische Unterwerfung voraus. Davon konnte 782 in vielen Gegenden Sachsens, vor allem in der Region zwischen Elbe und Weser, noch nicht die Rede sein. Vorerst fachte sie den sächsischen Widerstand eher kräftig an.

Das Massaker von Verden (782)
Der aufgestaute Zorn entlud sich in einem allgemeinen Aufstand. Als Widukind im Sommer 782 aus Dänemark heimkehrte, hatte er nicht mehr nur kleine „Gefolgschaften“ oder bestenfalls das Aufgebot eines einzelnen Stammes hinter sich, sondern eine ganze Armee.
Wieder brannten die Kirchen, wurden Missionare umgebracht. Im Nordwesten, an der Elbe, wurde das jahrelange Bekehrungswerk weitgehend vernichtet. Auch Grafen und christlichen Edelingen ging es an den Kragen.

Zur selben Zeit überfielen Trupps der slawischen Sorben Gebiete Thüringens und Sachsens, die an den Grenzflüssen Saale und Elbe lagen. Die Gefahr, die von den Sorben ausging, schätzte Karl groß genug ein, um ein Heer aus Ostfranken und loyalen Sachsen für eine Strafexpedition an die Elbe zusammenstellen zu lassen, unter dem Befehl von immerhin drei wichtigen „Staatsbeamten“ des Hofes.
Auf dem Marsch zur Elbe und Saale erreichte die Truppe die Nachricht vom Sachsenaufstand, worauf sie sofort das Marschziel in Richtung des Süntel, einem Höhenzug, der sich rechts der Weser etwa von Hameln bis Minden erstreckt, wechselten, wo sich ein sächsisches Heer sammelte. Sie vereinten sich mit dem im Eilmarsch von Niederrhein anrückenden Heer Graf Theoderichs. Allerdings gab es Disziplinschwierigkeiten, denn Teile der fränkischen Truppen griffen entgegen den Befehlen Graf Theoderichs voreilig und ungeordnet das sächsische Lager an. Die sächsischen Bauernkrieger erwarteten die Angreifer in geordneten Reihen vor ihrem Lager, fast alle Franken kamen um.

Zur Überraschung nicht nur der fränkischen Chronisten, sondern auch späterer Historiker schickte Widukind offenbar seine siegreichen Krieger nach Hause und verschwand wieder. Die wahrscheinliche Erklärung: Die Getreideernte stand an, und da anscheinend keine unmittelbare Gefahr mehr bestand, zog es die sächsischen Bauernkrieger auf ihre Felder – Nachteil eines Volksheeres aus Freiwilligen. Widukind setzte sich wieder – vermutlich zähneknirschend – mit einigen Getreuen nach Dänemark ab.

Karl reagierte sofort und ließ eiligst ein Entsatzheer zusammenziehen und nach Sachsen einmarschieren. Er befahl den sächsischen Edlingen, sich in Verden an der Aller zu versammeln und für ihren vermeintlichen Treuebruch zu verantworten. Sie gehorchten, fühlten sich, mehrheitlich wohl zu recht, unschuldig und machten allein den abwesenden Widukind und die von ihm angeführten Rebellen verantwortlich. Mehr noch: als Karl die Auslieferung der aufsässigen Bauern verlangte, nutzten sie offenbar gern die Gelegenheit, diese zu denunzieren.
In den Reichsannalen liest sich das so:

„Als der Herr König Karl dies hörte, eilte er mit den Franken, die er in aller Eile zusammenraffen konnte, dorthin und gelangte an einen Ort, wo die Aller in die Weser fließt. Dann unterwarfen sich wiederum versammelte Sachsen unter die Gewalt des genannten Herrn Königs und lieferten die Übeltäter aus, die jenen Aufstand vor allem ausgelöst hatten, 4500, um sie hinrichten zu lassen. So ist es geschehen, eine Ausnahme machte Widukind, der zu den Nordmannen geflüchtet war.“

(Übersetzung nach Dieter Hägermann: Karl der Große.)

Der Text ist so lapidar eindeutig, dass ein Uminterpretieren kaum möglich ist. An der Anzahl der Hingerichteten sind Zweifel angebracht, am blutigen Geschehnis selbst nicht.
Dennoch ist das „Verdener Blutbad“ von vielen Historikern in Frage gestellt worden, zu sehr widerspricht es dem Bild des milden Herrschers und geschickten Politikers Karls „des Großen“, dem „Leuchtturm des Abendlandes“.
Noch heute kursieren Darstellungen, nach denen Karl nicht so dumm gewesen sein wird, die „Besten der Sachsen“ auszurotten, dass nur „eine große Zahl“ (was statt 4500 auch 45 bedeuten könnte) hingerichtet wurde, dass Karl sich darauf beschränkt hätte, an vier (!) Aufständischen ein Exempel zu statuieren, oder dass es einen Schreibfehler in den Annalen gäbe – statt „decolare“ (Enthaupten) hätte es in Wirklichkeit „delocare“ (Umsiedeln) geheißen.
Tatsächlich war die Umsiedlung – oder besser Vertreibung – ein wirksames Mittel in Karls Kriegsführung. In dieser Situation und auf Grundlage des harten Besatzungsrechts der Capitulatio ist es aber wahrscheinlicher, dass der König wirklich mit äußerster Härte vorgehen ließ – an sich nichts Ungewöhnliches, denn mit gefangenen Partisanen wurde in allen Kriegen bis in die Gegenwart gern kurzer Prozess gemacht. Die Tatsache, dass es (bislang) keinen archäologischen Nachweis des „Blutgerichts“ gibt, besagt wenig, weil der genaue Ort des Geschehens nicht bekannt ist. Außerdem zeigen Erfahrungen mit Massakern aus der jüngeren und jüngsten Geschichte: Wenn die Henker die Leichen nicht an Ort und Stelle in Massengräbern verscharrt hatten, ist eine Massenhinrichtung durch Grabungen kaum nachweisbar.

Dass tatsächlich 4500 Sachsen hingerichtet wurden, ist dennoch sehr unwahrscheinlich. Da es sich um Bauerkrieger handelte, gäbe an sich auch das verhältnismäßig dünn besiedelte Sachsen entsprechend viele Menschen her, und am Aufstand müssen tatsächlich Tausende beteiligt gewesen sein. Hingegen hätten die Franken eine riesige Wachtmannschaft benötigt, um so viele Gefangene in Schach zu halten – in Zeiten vor der Erfindung der Feuerwaffen rechnete man durchaus mit doppelt so vielen Wachleuten wie Gefangenen, zumindest solange bis die Gefangenen alle sicher gefesselt waren. Da Karl nur einige eilig zusammengekratzte Truppen in Sachsen zur Verfügung hatte, vielleicht 5000 Mann, hätten die vorhandenen Kräfte wahrscheinlich nicht einmal für die Wachmannschaft ausgereicht. In dieser instabilen Situation hätte der geschickte Taktiker Karl es wohl schwerlich riskiert, seine relativ wenigen Soldaten an einem Ort zusammenzuziehen und damit andere Landesteile zu entblößen. Nicht zuletzt wäre es vor der Erfindung der Guillotine eine mehrtägige Mordsarbeit gewesen, so viele Menschen mit Schwert oder Axt zu köpfen.

Mittelalterliche Chronisten neigten notorisch zu übertrieben Zahlenangaben. So lässt sich ohne großes Zögern eine Null von den 4500 streichen. Selbst 450 Hingerichtete wären immer noch ein schreckliches Blutbad gewesen, nur wenige sächsische Siedlungen hatten so viele Einwohner, so dass selbst diese Zahl zu hoch gegriffen sein könnte. Die überaus heftige Reaktion der Sachsen auf das „Blutgericht“ lässt jedoch auf eine verhältnismäßig hohe Opferzahl schließen, wie hoch, lässt sich mangels archäologischer Beweise nicht bestimmen.

Das Massaker von Verden war nicht nur ein moralisch verwerflicher Akt, sondern auch eine politische Dummheit. Nach Verden waren die Sachsen zu allem entschlossen. Der blutigste Abschnitt des Sachsenkriegs stand noch bevor, die Hinrichtung einer großen Zahl sächsischer Partisanen hat Karl mit weitaus mehr eigenen Verlusten bezahlen müssen.

Was hatte Karl zu seinem unklugen Entschluss bewegt? Möglicherweise befürchtete er, dass die abschreckende Wirkung seines Besatzungsregimes nicht mehr „glaubwürdig“ gewesen wäre, wenn er den schrecklichen Drohungen nicht auch schreckliche Taten hatte folgen lassen. Er setzte vielleicht auf blanken Terror. Das könnte auch die wahrscheinlich übertriebene Zahl 4500 in den Annalen erklären – vielleicht hoffte er, damit potenzielle Gegner einschüchtern zu können.
Es ist aus der Biographie Einhards bekannt, dass Karl ein temperamentvoller, manchmal impulsiver Mann war – vielleicht war er, wie viele Mächtige vor und nach ihm, einfach über den Verlust einer Armee so wütend, dass er entgegen der politischen und militärischen Vernunft handelte.

Die Sachsenkriege, Teil 3

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3 Kommentare
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  2. Sehr gut gemacht nur nicht für KInder geeignet!!!!!!!!!
    Sehr kopliziert geschrieben ich gebe ihnen eine Sculnote: 2+

  3. Hi Martin,

    wo ich es gerade auf der Karte sehe: Die Babilonie befindet sich ca. 4km durch den Wald vom“Gesundheitshaus am Wiehengebirge“ entfernt, man könnte also bei Interesse beim nächsten Treffen dort durchaus mal ne kleine Wanderung dorthin unternehmen.

    Ansonsten: Auch noch Jahre nach der Erstlektüre dieser Artikelserie: Alle Hochachtung vor Deiner gründlichen Rechercheleistung und umfassenden, nicht durch Ideologie verzerrten, Darstellung des Themas – aber das könnte ich unter so viele Deiner Artikel setzen, und ewige Lobhudelei ist nicht so mein Ding (Auch wenn sie durchaus gerechtfertigt wäre!). 😉

    *winks*
    Felis

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