Die Erfindung des Hexereidelikts

12. September 2008 | Von | Kategorie: Erforscht & Entdeckt

Vor dem späten Mittelalter gab es keine Hexen!

Wie das? Ist der Schamanismus *) etwa nicht in fast allen Naturreligionen gängige Praxis, auch in denen des alten Europas? Gibt es nicht überall, wo ein magisches Weltbild vorherrscht, neben wohltätiger Magie auch Schadenzauber? Ähneln sich nicht überall auf der Erde die Vorstellungen von Magie und Hexerei in verblüffender Weise, trotz aller kulturellen Unterschiede? Stammt unser Wort Hexe etwa nicht vom germanischen Hagazussa, Zaunreiterin?
Hexen und Bock
Hexen beim Tanz mit dem „Bock“

*) gemeint sind schamanische Praktiken im weitesten Sinne.

Des Rätsels Lösung: In den Hexenprozessen bezog sich das Wort „Hexe“ ausdrücklich auf das christlich-theologisch definierte Hexereidelikt, dessen zentraler Punkt der Teufelspakt war. Der traditionell-volkstümliche Schadenzauber spielte allenfalls im Vorfeld der Anklage eine Rolle, für die Prozesse war der Hexereibegriff der christlichen Theologie juristisch verbindlich.
Unschuldige Opfer der Justizmorde waren deshalb nicht nur die aus Neid, Misstrauen oder Angst vor Fremden und Außenseitern Denunzierten und auch nicht nur jene Hebammen, weisen Frauen, Kräuterkundigen, die trotz – oder gerade wegen – ihrer hilfreichen Dienste verfolgt wurde. Nicht schuldig im Sinne der Anklage waren auch alle unbequemen Denkerinnen und Denker, die für ihre Ideen als Hexen bestraft wurden, alle „ketzerische“ Magier und Mystiker, und selbst die heimlichen Anhänger der alten heidnischen Religion. Auch Scharlatane und Betrüger waren, was immer sie sich zuschulden kommen ließen, der Hexerei unschuldig. Sogar bekennende Schwarzmagier und Schadenzauberer hätten, legt man das theologisch begründete Hexereidelikt – etwa im Sinne der Hexenbulle Papst Innozenz VIII. – zu Grunde, eigentlich vom Hexereivorwurf freigesprochen werden müssen. Kein einziges Opfer der Hexenreiprozesse war im Sinne der Anklage schuldig!

Die traditionelle Vorstellung vom Schadenzauber

Alle heidnischen Kulturen des alten Europas – die Kelten, Germanen, Slawen usw., aber auch die antiken Griechen und Römer – waren von der Kraft der Magie überzeugt. Zauberei war für unsere Vorfahren nichts Übernatürliches, sondern eine ganz normale Fähigkeit, wie etwa die Fähigkeit, Musik zu machen: Im Prinzip kann es jeder erlernen, aber einige können es besser als andere. Wer zaubern kann, kann seine Fähigkeit zum Schadenzauber missbrauchen.

Der Schadenzauber galt, gemäß den magischen Weltbild dieser Kulturen, als normale Straftat. Selbst im alten Rom wurde Schadenzauber gesetzlich unter Strafe gestellt. Ob man jemanden mit der Waffe verletzte oder magisch angriff, ob man ein Getreidefeld abbrannte oder die Ente auf magischen Weise vernichtete, war im Rechtsempfinden des heidnischen Europa eins.
Es gab Menschen, die sozusagen beruflich mit Magie umgingen – Priester und Priesterinnen, Seherinnen, Heiler und Heilerinnen, aber auch Hirten und Handwerker wie Schmiede. Und es gab Schamanen, vor allem im finno-ugrischen Kulturraum. Bei fast allen europäischen Völkern lassen sich schamanische Praktiken wie Trancereisen in die Anderswelt nachweisen.

Wir würden sicherlich viele dieser Alltagsmagier Hexen nennen. Aber selbst wenn eine Kräuterfrau gleichzeitig Hebamme, Heilerin, Zauberin und Zaunreiterin mit schamanischer Fähigkeit war, mithin also dem modernen Hexenbegriff entsprach, dann war sie im Verständnis ihrer Zeit eben Kräuterfrau, Hebamme, Heilerin, Zauberin und Zaunreiterin, und nicht etwa Hexe. Noch in der frühen Neuzeit bezeichnete der Volksmund magiebegabte Menschen als Zauberer oder Zaubersche, weise Frauen, Drudner oder Drude (wohl abgeleitet von Druide), in Norddeutschland auch als Wicker oder Wickersche, aber nicht als Hexen. Im Volk wurde nach wie vor zwischen wohltätiger „weißer Magie“ und schadenbringender „schwarzer“ Magie unterschieden Auch bei Geistern, Feen und Dämonen unterschied man zwischen Holden und Unholden.

Diese volkstümlichen Magievorstellungen blieben erstaunlich lange lebendig, auch zur Zeit der großen Hexenverfolgung. Je weiter allerdings das vorchristliche magische Weltbild in Vergessenheit geriet, desto mehr degenerierten die alten Bräuche zum unverstandenen Wunder- und Aberglauben. Magie wurde den einfachen Menschen immer unheimlicher.

Die Haltung der christlichen Kirchen vor dem hohen Mittelalter

Bis ins 12. Jahrhundert galt Magie kirchenoffiziell als „heidnischer Aberglaube“. Man berief sich auf den Kirchenvater Augustinus (354 – 430), der Zauberei für unmöglich hielt: Magie war nur als übernatürliches Wunder vorstellbar, und nur Gott allein kann Wunder bewirken.
Trotzdem ist es falsch, anzunehmen, das christliche Mittelalter vor der Zeit der Hexenverfolgung hätte Magie nicht gekannt, der „Hexenwahn“ sei mithin ein „Rückfall“ in heidnisch-abergläubische Vorstellungen gewesen.

Die Missionare des frühen Mittelalters wollten nicht nur Anhänger zu gewinnen, sondern sie mussten auch alle anderen Kulte und Religionen ersetzen und auslöschen, wollten sie nicht gegen das Erste Gebot – „Du sollst keine anderen Göttern neben mir haben“ – verstoßen. Das geschah nicht selten mit robuster Gewalt. Die Folge: Das in der Regel unfreiwillig christlich gewordene Volk übte seine alte Bräuche heimlich weiter aus, manchmal in christlicher Verkleidung. Geschickte Missionare wussten jedoch, dass man eine neue Religion nicht allein mit Zwang einführen konnte, sondern sie geschmeidig an die Vorstellungswelt der neuen Schäfchen anpassen musste. Gewisse Formen von Magie wurden deshalb von der frühmittelalterlichen Kirche übernommen, trotz aller Bekämpfung des „heidnischen Aberglaubens“. Hinzu kommt, dass die zahlreichen Wunder- und Zaubergeschichten der Bibel ihren Eindruck auf die Gläubigen nicht verfehlten. Im Laufe der Überlieferung nahmen die Heiligenlegenden immer magischere Züge an. Ein Missionar, der magisches Denken in jeder Form verdammt hätte, wäre deshalb unglaubwürdig gewesen.

Das Weltbild der Kirche war spätestens seit der Zeit Karls „des Großen“ mit magischen Vorstellungen und Wunderglauben regelrecht durchtränkt. Der damals einsetzende Reliquienkult ist beispielsweise eine Form des „Pars Pro Toto“-Zaubers, wie man sie auch aus dem Voodoo kennt: Ein Teil steht für das Ganze, der Zahn oder das Gewand eines Heiligen ist heilsbringend, wie es der lebendige Heilige gewesen sein soll. Für weite Teile der Bevölkerung dürfte das „christliche Mittelalter“ ohnedies weit weniger christlich gewesen sein, als man dies aufgrund der Literatur dieser Zeit vermuten könnte. Der spätantike Rationalismus der Kirchenväter war theologische Theorie und außerhalb von schützenden Klostermauern kaum zu finden.

Im christianisierten Volk waren die alten heidnischen Magiepraktiken erstaunlich zählebig. Damit blieb auch der Glauben an schädlichen Zauber lebendig, weshalb es nach wie vor Anklagen gegen Schadenzauberer gab. Und manchmal wurden die vermeintlichen Schadenzauberer hingerichtet bzw. gelyncht. So wurden im Jahr 1090 bei Freising drei Wettermacherinnen verbrannt. Manches an diesem Vorgang erinnert an die späteren Hexenprozesse, allerdings akzeptierte die Kirche diese Hinrichtungen damals noch nicht, sondern bezeichnete die Frauen als „Märtyrerinnen“.

Die Lehre vom Dämonenpakt

Spätestens seit Augustinus stand die christliche Theologie vor dem Problem, dass sie einerseits Zauberei – von Menschen aus eigenen Kraft bewirkte „Wunder“ – verwarft, andererseits magisches Geschehen grundsätzlich zulassen musste, da es ja in der Bibel bezeugt wird. Der von Augustinus gewählte Ausweg war folgenschwer: Wunder können nur von Gott bewirkt werden, sie sind für den Menschen nicht verfügbar, der nur auf die göttliche Gnade hoffen kann. Aber der gefallene Engel, der Teufel, und seine Dämonen, haben mit Billigung Gottes ihre von Gott verliehenen magischen Fähigkeiten behalten. Zauberische Rituale und magische Gegenstände (z. B. Amulette) sind nach Augustinus an sich wirkungslos. Sie dienen aber als eine Art Kommunikationsmittel mit den Dämonen und bewirken den Abschluss eines Dämonenpaktes durch den Willen des Zaubernden und die dem Dämon gegebenen Zeichen.

Der einflussreichste scholastische Theologe, Thomas von Aquin (1225 – 1274), baute die Pakttheorie aus und wendete sie auch auf den bislang meist tolerierten magischen Volksglauben an. Neben dem ausdrücklichen Dämonenpakt (pacta expressa) gibt es nach Thomas auch einen stillschweigenden Pakt (pacta tacita). Jede noch so kleine magische Handlung sah er auf einen Teufelspakt begründet, auch wenn der Ausübende das nicht weiß. Jede Art von Zauberei ist Teufelswerk, so etwas wie wohltätige „weiße“ Magie gibt es nicht.

Noch vor Thomas setzte sich unter den Scholastikern die auf Aristoteles zurückgehende Vorstellung durch, es gäbe eine unvollkommene „sublunare“ Welt, in der die uns bekannten Naturgesetze gelten, und die „translunare“, vollkommene himmlische Welt jenseits der Mondumlaufbahn. Für die christliche Dämonologie hieß das: Der Teufel und seine Dämonen können in der unvollkommen-sündhaften irdischen Welt mit Billigung Gottes alles bewirken, der Teufel ist Herr der Welt und nur mit Gottes Hilfe kann man ihm entrinnen.

Eine weitere Folge war die bis heute nachwirkende Vorstellung vom „Übernatürlichen“. Es gibt das mit dem gesunden Alltagsverstand und der „rechten“ christlichen Doktrin erklärliche natürliche Geschehen, und Geschehnisse, bei denen es nicht mit „rechten Dingen“ – übernatürlich – zugeht. Jede außergewöhnliche Fähigkeit, selbst wenn es die Fähigkeit war, Kranke heilen zu können, könnte übernatürlich sein und war damit nach der Dämonenpaktlehre immer verdächtig, Teufelswerk zu sein.

Vom Ketzerprozess zur Hexenverfolgung

Bis zum 11. Jahrhundert wurden Häresie – Ketzerei – wie auch Zauberei nur mit einfachen Kirchenbußen geahndet. Erst danach häuften sich die Ketzerhinrichtungen. Ursache waren blutige Kreuzzüge der Kirche und mit ihr verbundener Fürsten gegen Glaubensabweichler, die oft auch politische Dissidenten waren, wie die Hussiten in Böhmen oder die Albigenser in Südfrankreich. Teilweise wurden die religiösen Praktiken der „Ketzer“ von der katholischen Kirche als Gotteslästerung gesehen, teilweise sagte man den Rebellen aus propagandistischen Gründen brutale Ritualmorde und teufelsbündlerische Praktiken nach – eine genaue Parallele zur Judenverfolgung der Kreuzzugszeit.

Die für die Aufdeckung von Ketzereien geschaffene Institution, die Inquisition, wurde ab dem 13. Jahrhundert zur eigentlichen Waffe der Kirche gegen die Zauberei. In mancher Hinsicht war das bald auch von weltlichen Gerichten übernommene Inquisitionsverfahren ein juristischer Fortschritt gegenüber dem sehr willkürlichen und oft auf Praktiken wie Gottesurteilen und Zweikämpfen zurückgreifenden mittelalterlichen Recht: Glaubwürdige Indizien, Zeugenaussagen und vor allem das Verhör des Angeklagten sollten zur „Wahrheitsfindung“ dienen. Gemäß der Mentalität einer Zeit, in der die Ohrenbeichte zur Pflicht eines Christenmenschen erhoben wurde, galten Indizien wenig, Zeugenaussagen nicht viel, das Geständnis nahezu alles. Ohne das Geständnis des Angeklagten durfte bei Kapitalverbrechen kein Urteil gefällt werden. Damit geriet ein zuvor wenig benutztes Prozessmittel in den Vordergrund: die Folter. Vor allem bei Majestäts- und Ketzereiprozessen, bei denen es möglichst keine Freisprüche mangels Beweisen geben durfte, wurde fortan von der Folter reger Gebrauch gemacht. Ein Geständnis um jeden Preis war das Ziel des Prozesses, nicht mehr der Nachweis des Verbrechens, das bei Ketzereidelikten stillschweigend vorausgesetzt wurde. Bei einem Ketzer stand de facto bei Anklage der Schuldspruch fest.

Das heißt nicht, dass damit sogleich eine allgemeine Hexenverfolgung einsetzte. In Deutschland bzw. im deutschsprachigen Raum gab es bis ins 15. Jahrhundert hinein fast nur traditionelle Zaubereiprozesse, bei denen es meist um Liebeszauber, aber auch um Schadenzauber gehen konnte. Zauberei ohne böse Absicht war im Sachsenspiegel (um 1225) noch nicht strafwürdig. Noch Anfang des 14. Jahrhunderts wurden Ketzerei, Zauberei und Strigenvorstellungen (wie auch Vampirismus, Wiedergänger, Werwölfe) gemeinhin getrennt gesehen.

Das änderte sich mit der systematischen Verfolgung der „Ketzer“. Nach der theologischen Doktrin gab es zwischen heidnischen Götzendienern, ketzerischen Teufelsanbetern und Zauberern keinen Unterschied. In der päpstlichen Bulle „Super illus specula“ von 1326 wurden dann Ketzerei und Teufelspakt gleich gesetzt. Der religiöse und politische Gegner wurde damit im Wortsinn verteufelt.

Wie das Wort Hexe entstand

Ab dem Ende des 13. Jahrhunderts ist in Oberdeutschland das deutsche Wort „Hexe“ nachweisbar. Hugo von Langenstein nannte in seinem Gedicht „Martina“ eine übelwollende heidnische Zauberin so. Hexe leitet sich vermutlich von der germanischen Hagazussa bzw. der Zaunreiterin her. Die Hagazussa war aber keine Hexe, sie war eher eine Art Schamanin, die auf dem Zaun zwischen den Welten saß sowohl in die eine, wie die andere Wirklichkeit abtauchen konnte. Erst mit der Verteufelung alles Magischen konnte aus der Hagazussa eine Teufelsbündlerin, eine Übertäterin („Malifica“), die Hexe werden. Wahrscheinlich wurde „Hagazussa“ zur „Hexe“, weil die Gelehrten des hohen Mittelalters keine Runeninschriften lesen konnten. Im älteren Futhark (Runen-Alphabet) sehen die ersten vier Runen von „Hagazussa“ – Haglaz, Ansuz, Gebo, Ansuz – in etwa wie die lateinischen Buchstaben H, E, X und E aus.
Hagazussa in Runen

Maßgeblich für die Entstehung des Hexereideliktes war die Verfolgung der „ketzerischen“ Waldenser in der heutigen Schweiz, Südwest-Deutschland, Südost-Frankreich und Norditalien im 14. Jahrhundert. Im Unterschied zu anderen „Ketzersekten“ waren die Waldenser tief im Volk verankert, deshalb konnte jeder – der Nachbar, der Arbeitskollege, der Freund, selbst der eigene Sohn – insgeheim „Ketzer“ sein. Die Folgen waren allgemeine Unterwanderungshysterie und von der Obrigkeit geschürte paranoide Verschwörungstheorien.

Zum ersten Mal tauchte der Begriff „Hexerey“ 1419 in einem Strafprozess vor dem Luzerner Stadtgericht auf. Der voll ausgeprägte Hexenbegriff wurde nach neueren Untersuchungen erst während des Konzils von Basel (1431 – 1437) erfunden und in vergangen Zeiten zurückprojeziert. Das war die Grundlage der Legende von Hexen im „finsteren Mittelalter“. Auch die Bibelübersetzungen wurden von diesem Denken beeinflusst. „Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen.“ So steht es im Buche Exodus (22,18) der Lutherbibel. Das hebräische Wort, das an dieser Stelle verwendet wird, ist wesentlich treffender mit „Giftmischerinnen“ zu übersetzen. Auch in englischen, französischen und selbst lateinischen Bibelübersetzungen findet sich dieser „Fehler“.

Der Realismus und der Hexenflug

Ab dem 12. Jahrhundert setzte sich die realistische Auffassung der Welt und das aristotelische Weltmodell auch im allgemeinen Denken immer stärker durch: Es gab von nun an nur noch die normale, alltägliche Wirklichkeit und das mit irdischen Mitteln nicht erforschbare Jenseits. Das wird oft als Fortschritt des Denkens gesehen, bedeutete aber vor allem im Religiösen eine groteske Einengung. Wenn die Bibel wahr ist, dann muss sie in diesem Weltbild wörtlich wahr sein, sie konnte sich ja nur auf eine Wirklichkeit beziehen. Selbst „metaphorische“ und „mythologische“ Wahrheiten sind für einen Realisten im Sinne des späten Mittelalters nur Fiktionen – und Gott schreibt keine Romane!
Die Theorie der „doppelten Wahrheit“ nach der das, was für die Vernunft falsch ist, für den Glauben wahr sein kann, galt als häretisch.
(Realismus bedeutet in der scholastischen Philosophie vereinfacht gesagt: Das Allgemeine ist wirklich und die Allgemeinbegriffe existieren vor den Dingen. Es gibt nur eine Wirklichkeit, die konkreten Dinge sind von ihr abgeleitet. Die Gegenposition, der Nominalismus, lehrt, dass dem Allgemeinen keine Wirklichkeit zukommt, nur Dinge existieren, das Allgemeine ist nichts als ein in Grunde willkürlich vergebener Name. Beispiel: Für einen Realisten ist der Begriff „Bäume“ ein wirkliches Ding, das das Wesen aller sinnlich wahrnehmbaren Bäume bestimmt. Für einen Nominalisten ist „Bäume“ nur ein aus praktischen Gründen gewählter Ordnungsbegriff, in Wirklichkeit gibt es nur die konkrete Birke vor meiner Tür, die Buche drüben im Wald, die Fichte, die gestern gefällt wurde usw. . Obwohl der Nominalismus sich bis heute als der fruchtbarere Denkansatz erweist und eine philosphische Voraussetzung der modernen Naturwissenschaft ist, setzte sich in der frühen Neuzeit eher der Realismus durch – nicht zuletzt deshalb, weil der Nominalismus die Wirklichkeit der Dogmen und damit die Vorrangstellung der Kirche in Frage stellte.)

Die Folge dieses „Fortschritts“ zu einer einzigen allgemeinen Realität war ein „Rückfall“ in ein grotesk naives religiöses Denken: Die Hölle – eigentlich ein jenseitiger Strafort – wurde buchstäblich unten, im Erdinneren, vermutet, der Himmel, das positive Jenseitsreich, oben über dem als Schale gedachten Sternenfirmament. Christi Himmelfahrt wurde als ein fahrstuhlähnlicher Vorgang betrachtet, die Jungfräulichkeit Marias (auch nach der Geburt!) für eine anatomische Tatsache gehalten usw.. In den extremeren Zweigen der katholischen Kirche und bei angeblich nüchternen protestantischen Fundamentalisten glaubt man dergleichen bis heute. Im magischen Weltbild ist alles, was geschieht, völlig natürlich, während das christlich-realistische Weltbild voller übernatürlicher Wunder steckt.

Das beeinflusste die Vorstellungen vom Hexenflug. Die alten Heiden wussten, dass bei den Reisen eines Schamanen der Körper in der „normalen“ Welt an Ort und Stelle bleibt. Sie oder er reisten eben in einer anderen Wirklichkeit. Im christlich-realistischen Denken hatte eine Anderswelt ebenso wenig Platz wie eine subjektive Wahrnehmung – es gab nur die Wahrheit und die Lüge bzw. das Trugbild. Selbst die bisher geschätzte christliche Mystik geriet ab etwa 1500 in Verruf.

Das führte dazu, dass rational eingestellte Theologen die Möglichkeit des schamanischen Reisens, des „Hexenfluges“, generell in Abrede stellten („Du willst in der Anderen Welt gewesen sein? Du lügst, Du hast die ganze Zeit hier auf dem Fußboden gelegen, ich habe es gesehen!“). Andere, dogmatischere, hielten den Hexenflug für einen realen Vorgang im dreidimensionalen Raum – der Hexenbesen wurde als eine Art Flugzeug gesehen. Solch ein Verstoß gegen die Naturgesetze war allerdings nur mit dämonischer Hilfe vorstellbar!

Traditionelle Magievorstellungen während der Hexenverfolgungen

Nicht zufällig fällt der Beginn der Hexenverfolgung mit der Zeit der großen Pest Mitte des 14. Jahrhunderts zusammen. Die größte Verfolgungswelle überhaupt brach in Deutschland sogar erst um 1580 aus, als Missernten und Misswirtschaft das Wirtschaftssystem der Renaissance zusammenbrechen ließen.

Entgegen der populären Vorstellung, dass die Hexenjagd vor allem von der kirchlichen Obrigkeit aus ging, kamen die Impulse für die Verfolgung von unten, aus dem Volk. Seit jeher war es üblich, Übelstände, die man sich nicht erklären konnte, auf Schadenzauber zurückzuführen und eigenes Ungemach auf „üble Mächte“ zu schieben. Da im Volksrecht für eine Anklage gegen einen Schadenzauberer, modern gesprochen, die Beweislast beim Ankläger lag, und die Kirche jede Beschäftigung mit Magie missbilligte, führte der volkstümliche Magieglaube, der im Laufe der Zeit immer mehr zum Magie-Aberglauben degenerierte, normalerweise nicht zur Hexenverfolgung.

Ging es dem Volk gut, hielt sich die Hexen-Hysterie in Grenzen. In „guten Zeiten“ liefen die meisten Hexenprozesse der Verfolgungszeit nach wie vor nach dem Schema der traditionellen Schadenzaubervorstellungen ab: In aller Regel führte ein Alltagskonflikt zum Schadenzauberverdacht, wobei die Grenze zwischen natürlichen Verbrechen, etwa Giftmord, und magischen Verbrechen fließend verlief. Wegen der schwachen Rechtsposition der Frauen fielen sie leichter auch grundlosen Verdächtigungen zum Opfer als Männer. Erst wenn es zum Prozess kam, wurden sie in vollem Umfang mit dem frühneuzeitlichen Hexenbild konfrontiert. Unter der Folter bejahten die Angeklagten das vorgefertigte Frageschema über Teufelspakt, Teufelsbuhlschaft, Hexenflug und Hexensabatt.

In Krisenzeiten war das anders. Im mittelalterlichen Weltbild unterlag alles Heil und Unheil Gottes unerforschlichem Ratschluss, Unheil und Ungerechtigkeiten hier und da war unvermeidliche Folge von Gottes Plan, das Heil der gesamten Christenheit zu fördern. Pest und klimatisch bedingte Missernten waren aber Katastrophen bisher nicht geahnten Ausmaßes. Natürliche Ursachen waren nicht erkennbar. Das kindliche Gottvertrauen der Bevölkerung zerbrach. Ein Teil der Bevölkerung reagierte traditionell, sah das Unheil als verdiente Strafe Gottes, reagierte mit Selbstvorwürfen, Bußübungen, Selbstgeißelungen. Aber das Selbstbewusstsein vor allem der städtischen Bürger war gewachsen, ließ demütiges Akzeptieren von Leiden nicht länger zu. Man suchte für alles Übel einen Urheber, dessen systematische Ausrottung Leidensfreiheit garantieren sollte. Juden, Ketzer, Andersgläubige boten sich an, wurden brutal verfolgt. Aber an allem Unheil konnten sie nicht schuld sein, dazu fehlten ihnen die Möglichkeiten. Die hatte nur der Teufel. Die Teufelsbuhlerin, die Hexe wurde zur idealen Projektionsfigur, zum Allzweck-Feindbild in schweren Zeiten. Kein Wunder, dass Hexenjagden äußerst populär waren!

Die Rolle der Kirche

Der Impuls zur Hexenverfolgung ging also vom Volk aus. Dennoch lag der Historiker Joseph Hansen nicht falsch, als er um 1900 schrieb: „Die Geißel der Hexenverfolgung ist von der Theologie der christlichen Kirche geflochten worden.“ Ohne die Theologie Thomas von Aquins kein frühneuzeitliches Hexenbild, ohne Ketzerverfolgung kein Inquisitionsprozess und keine systematische Folter. Die Hexenverfolgung war eine Volksbewegung, aber die Theologie lieferte die Rechtfertigung und gab ihr die Form. Der Glaube an Schadenzauber ist beinahe weltweit verbreitet, die systematische, ausgedehnte Verfolgung von Zauberern und Hexen war geographisch auf jenes Gebiet beschränkt, das vor der Reformationszeit der Autorität der römisch-katholischen Kirche unterstand. Weder in Gebiet der griechisch-orthodoxe Kirche, noch im koptischen und kleinasiatischen Christentum gab es Hexenjagden. Es spricht auch für eine Mitschuld der Kirche, dass die ersten großen Hexen-Verfolgungswellen dort ausbrachen, wo zuvor „Ketzer“ verfolgt wurden.

Es waren auch Theologen, die die diffuse Ängste der Bevölkerung, ihren projektiven Hass, auf einen bestimmten „Täterkreis“ kanalisierten. Mit der von Papst Innozenz VIII. unterzeichneten „Hexenbulle“ gab es ab 1486 einen kirchenoffiziellen Katalog der den Hexen vorgeworfenen Verbrechen. Durch Teufelsmacht und mit abscheulichen Hexenkünsten töten Hexen Kinder und junge Tiere, vernichten die Ernte, verbreiten Krankheiten, stören das eheliche Zusammensein von Männern und Frauen und verhindern die Empfängnis. Diese Bulle wurde in ihrer Wirkung ergänzt durch den berüchtigten Mallus Maleficiarum, den „Hexenhammer“ des Dominikanerpaters Heinrich Kramer, genannt Institoris. (Sein „Co-Autor“ Jacob Sprenger kann mit keinem Textteil des „Hexenhammers“ in Verbindung gebracht werden, Kramer machte sich lediglich den guten Namen seines Ordensbruders zu nutze. Was nicht heißt, dass der prominente Inquisitor Sprenger an der Hexenhysterie völlig unschuldig gewesen wäre.)
Kramer gab eine konkrete Gebrauchsanweisung, wie ein guter Christenmensch Hexen unfehlbar aufspüren und überführen kann. Nicht zu vergessen, dass der „Hexenhammer“ Kramers pathologischen Frauenhass zum maßgeblichen sittlichen Gebot erhob.

Justizmorde aus Eigennutz

Erst jetzt, auf der Schwelle zur Neuzeit, war das „Feindbild Hexe“ komplett. Der Hexenbegriff war ein Angebot an die Bevölkerung, Mitmenschen, die ihnen aus irgend einem Gründe nicht passten, mit Hilfe der Obrigkeit per Denunziation auf den Scheiterhaufen zu bringen. Immer einen Schuldigen bei der Hand zu haben war verlockend für das geplagte Volk – es fällt auf, dass die Scheiterhaufen in der Regel dort am heftigsten brannten, wo die staatliche Autorität am schwächsten war.

Es war ausgerechnet die Inquisition, die in Spanien um 1500 eine von Teilen des Volkes gewünschte allgemeine Hexenverfolgung verhinderte. Während die politisch ohnmächtigen Kleinstaaten Deutschlands traurige Hochburgen der Jagd auf Unschuldige wurden, gab es in Gebieten mit intakter Verwaltung und Justiz kaum Verfolgung. Mit einigen bezeichnenden Ausnahmen: Religiöse Fanatiker auf Fürstenthronen, wie der Kölner Erzbischof und Herrscher über den größten Teil des heutigen Nordrhein-Westfalens, Ferdinand von Bayern (1577 – 1650), tyrannisierten und disziplinierten mittels Hexenverfolgung ihre Untertanen. Ferdinand gilt als eifrigster regierender Hexenbrenner. Aber auch unter protestantischen Herrschern gab es Hexenjäger aus Kalkül. Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel gründete seine noch heute berühmte Bibliothek, später Wirkungsstätte des Philosophen Leibnitz, unter anderem aus dem beschlagnahmten Vermögen als Hexen verurteilter Frauen. Wie Neid und Besitzgier ja auch ein wesentliches Motiv der Hexenverfolgung „von unten“ war.

Andere Hexenverfolger aus Eigeninteresse waren der Arzt Paracelsus (1493 – 1541), dem man allerdings zugute halten muss, dass er selbst unter Hexereiverdacht stand, und der „Mitbegründer des wissenschaftlichen Denkens“, der Politiker und Philosoph Francis Bacon (1561 – 1626).
Der Verdacht, die frühneuzeitlichen Ärzte hätten mit dem Hexerverdacht gegen Hebammen und Kräuterfrauen vor allem unliebsame Konkurrenz ausgeschaltet, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Das Patriarchat beseitigte in der frühen Neuzeit auch mittels Hexenjagd die letzten Nischen, die selbstbewussten Frauen noch geblieben waren. Auch weltanschaulich unbequeme Männer wie der Naturphilosoph und Astronom Giodarno Bruno wanderten wegen Zauberei auf den Scheiterhaufen. In den zahlreichen Religionskriegen des 16.und 17. Jahrhunderts lieferte der Hexereivorwurf an den Feind propagandistische Munition.

Erst im 18. Jahrhundert geriet das Hexereidelikt außer Mode, mit der Ausnahme einiger rückständiger Regionen. Das lag außer an der vielgerühmten Aufklärung wohl daran, dass in den immer straffer durchorganisierten Staaten des späten Absolutismus eine Hexenjagd von „unten“ nicht mehr möglich, eine von „oben“ nicht mehr nötig war. Für den Obrigkeitsstaat gab es ja überreichlich neue „Volksfeinde“: Juden, Freimaurer, Demagogen, ausländische Agenten usw. usw. .

Das Hexereidelikt der Verfolgungszeit war eine Erfindung des 15. Jahrhunderts. Es verband die in der Ketzerverfolgung der Inquisition gewonnenen „Erkenntnisse“ über teuflische Verschwörungen mit Vorstellungen aus der Glaubenswelt der Bevölkerung, deren Wurzeln bis in sehr alte Schichten des europäischen Schamanimus zurückreichten. Ohne die geistige Wende zur Neuzeit ist das Hexereidelikt nicht zu verstehen.

Martin Marheinecke

Erstveröffentlichung: Heidenarbeit Nr. 21, Januar 2003

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2 Kommentare
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  1. Ein weiter gehende, sehr gute, kritische Darstellung von Mara in 10 Teilen:
    Burning Times – Mythos oder Realität?

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  2. […] Der typische fundamentalistische Denkfehler ist es, alles wortwörtlich zu nehmen (nicht nur Bibeltexte), wobei genau eine (die für richtig gehaltene) Wortbedeutung zugrunde gelegt wird – es bleiben nur die Alternative entweder “die einzig wahre Wahrheit” (an die der Fundamentalist glaubt) oder “Lüge” (bestenfalls: “schreckliche Irrtum”. Im Falle der “Hexenpaniker” sind alle neue Hexen, Schadenzauberinnen, Ritualfrauen, Schamanen und Schamaninnen, zu Unrecht verdächtigte “Dorfhexen”, die Opfer der Hexenprozesse, vielleicht sogar Kräuterhexen, und so weiter und so fort, offensichtlich alle gleichermaßen Hexen, und als Hexen automatisch und immer Menschen, die sich mit dem Teufel gegen Gott und die Menschheit verbündet haben. Eine andere Bedeutung von “Hexe” ist ausgeschlossen! (Zum Hexereibegriff im Wandel der Zeiten: Die Erfindung des Hexereideliktes.) […]

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