Antisemitismus – kein Thema?

29. Juli 2014 | Von | Kategorie: Gjallarhorn Weblog

Antisemitismus war schon etliche Male Thema auf diesen Seiten. Daher sollte er „kein Thema“ – im umgangssprachlichen Sinn von „das ist doch selbstverständlich“ – sein.
„Kein Thema“ – im ebenfalls umgangsprachlichen Sinne von „das ist für uns nicht wichtig“ – ist Antisemitimus meiner Ansicht nach nicht. Aus gleich drei Gründen:

  1. In letzter Zeit war nicht nur ich unangenehm überrascht, wie oft offensichtlicher und weniger offensichtlicher Antisemitismus in meine Timeline auf Twitter und Facebook flutete, und zwar auch aus Quellen und von Menschen, bei denen ich nicht damit gerechnet hätte.
  2. Ich beobachte, dass viele Menschen zwar merken, dass der Antisemismus sich wieder breit macht und agressiver ist, als er je in der deutschen Nachkriegsgeschichte war – aber dieser Antisemitismus ausschließlich „bei den Anderen“ gesehen und ihnen zugeschrieben wird. Vor allem den Islamisten – wobei ich beinahe über jeden froh bin, der nicht gleich „die Moslems“ schreibt oder sagt. Ja, es gibt einen aggressiven islamistischen Antisemitimus. Nein, noch nicht einmal alle Islamisten sind aggressive Antisemiten. Dann den „Rechtsextremisten“ – ja, praktisch alle mitteleuropäischen Rechtsextremisten sind mehr oder weniger offene Antisemiten – nein, Antisemitismus gibt es auch „links“ und besonders hartnäckig, in verbrämter Form, in der „Mitte“. Von von betont christlicher, aber auch muslimischer Seite wird den „gottlosen Atheisten“ die Schuld für „den Antisemitismus“ in die Schuhe geschoben. Ja, und Neuheiden, vor allem solche, die es mit den Germanen haben, sind nach Ansicht mancher Leute automatisch Antisemiten. Welchen anderen Grund, als den, dass „Judäo-Christentum“ zurückdrängen zu wollen, könnte es geben, sich für längst „überholte“ Religionen einzusetzen? Jedenfalls können sich überraschend viele Menschen keinen anderen Grund dafür vorstellen, „Heide“ sein zu wollen.
  3. Nachdem am Rande von pro-palästinensischen Demonstrationen auch in Deutschland nicht nur, was schlimm genug wäre, antisemitische Parolen gegrölt wurden, sondern Antisemiten jüdische Menschen und Einrichtungen angriffen, wird die ohnehin heikle Grenze zwischen berechtigter Israelkritik und Judenhass noch heikler. So heikel, dass viele derjenigen, die sich noch die Mühe machten, zu differenzieren, sich diesen Aufwand nun auch noch sparen. Anders gesagt: Palästinenser-Unterstützer sind ihnen zufolge automatisch Antisemiten und Terrorunterstützer. Welchen anderen Grund, als den, die „Juden aus Palästina“ (dem ganzen Palästina, einschließlich des israelische Kerngebietes!) zurückdrängen zu wollen, könnte es geben, sich für die Palästinenser einzusetzen? Jedenfalls können sich überraschend viele Menschen keinen anderen Grund dafür vorstellen.

Es ist sehr bequem, sich durch Schuldzuweisung um eigene Verantwortung zu drücken. Deshalb sind immer „die Anderen“ die Antisemiten (oder Rassisten, Sexisten usw.). Deshalb werfe ich auch niemandem Antisemitismus vor, der oder die sich unbedacht antisemitisch (rassistisch, sexistisch usw.) äußert. Auch ich sondere immer wieder und viel zu oft unbedacht antisemitische, rassistische und sexistische Sprüche ab! Schulddenken, also sich deswegen schuldig fühlen, hilft nicht, und „einfach mal die Schnauze halten“ nicht immer. Wichtig ist es, die Ursachen zu erkennen, und Verantwortung zu übernehmen.
Mir geht es darum, den tief liegenden, auch kulturell sehr tief verwurzelten Antisemitismus sichtbar zu machen, die Ursache dafür, dass Antisemitismus schier allgewärtig ist, und auch ich nicht von antisemitischem Denken und Empfinden frei bin.
Es gehört mindestens eine ordentliche Portion Naivität, eher noch Verleugnung und Verdrängung, dazu, anzunehmen, dass rund 2000 Jahre stabiler und wirkmächtiger Antisemitismus nicht die europäische Wirklichkeit zutiefst geprägt hätten. Die europäische und euro-amerikanische Kultur ist, jedenfalls bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von Antisemitismus und Judenhass durchzogen. Das Christentum ist immer noch, allen Bemühungen einer engagierten Minderheit unter den Christen zum Trotz, eine zutiefst anti-judäische Religion. Lange Zeit war es das offen einstandene Ziel der meisten christlichen Kirchen, die jüdische Religion zu vernichten bzw. „abzulösen“.
Erst die in der Menschheitsgeschichte einmaligen Verbrechen deutscher Menschen, alle jüdischen Menschen (einschließlich jüdischer Deutscher) auszumorden, und alles jüdische Denken zu vernichten, schuf in Europa eine neue Situation, in der die antisemitische Denktradition zumindest hinterfragt wird; die viele Menschen sensibel gemacht hat.
Schulddenken kann, in dem Fall, in dem „Schuld angenommen“ wird, wenn man sich „schuldig“ fühlt, zum Selbsthass führen. Ich vermute, dass der „umgekehrte Nationalismus“ vieler Antideutscher durch Selbsthass motiviert wird. Auch Jüdinnen und Juden sind nicht vor Selbsthass gefreit, auch ihre Israelkritik kann in etwas umschlagen, was Antisemitismus zumindest verdammt ähnlich sieht. Ja, und es gibt Antisemiten jüdischer Herkunft. Als „Kronzeugen“ dafür, dass „die Juden“ eben „Schuld“ seien, taugen sich nicht!

Wo verläuft aber die Grenze zwischen berechtigter Israelkritik und Judenhass?
Ein Faustregel dafür ist die von dem (ob seines Antikommunismus nicht unumstrittenen) Politiker Natan Scharanski stammende „Drei-D-Regel“. Sie funktioniert meines Erachachtens als grober Vortest gut, auch wenn ihr Erfinder nicht über den Vorwurf, selbst „doppelte Standards“ zu vertreten und ideologische Scheuklappen zu haben, erhaben ist.

  • Dämonisierung
    Die christliche Kollektivanklage gegen „die Juden“ als „Gottesmörder“, als „Juden“ gezeichnete literarische Gruselgestalten und „Superschurken“ wie der „ewige Jude“ oder Shakespeares Shylock, oder die schier allmächtigen jüdischen Drahtzieher in den berüchtigten „Protokollen der Weisen von Zion“ – Juden werden seit Jahrhunderten dämonisiert. Ihre Handlungen und Motive werden aus den normalen Proportionen gerissen – ein jüdischer Krimineller ist nicht etwa ein gewöhnlicher Krimineller, der zufällig unter anderem Jude ist, sondern jemand, der „bestimmt“ nur wegen seiner jüdischen Herkunft kriminell wurde.
    Ein Beispiel für Dämonisierung in der Israel-Debatte sind die Vergleiche von Israelis (die in diesem Zusammenhang gern pauschal mit „den Juden“ gleichgesetzt werden, egal, wo diese Juden leben und welche Staatsangehörigkeit sie haben) mit Nazis und der palästinensischen Flüchtlingslager mit Auschwitz bzw. des Gaza-Streifens als „Freiluft-KZ“. So schlimm die Verhältnisse dort auch sein mögen: „Nazis“ steht in diesem Kontext für „die absolut Bösen“. Nach Ursachen und Verantwortung wird nicht gefragt, „diese Zionistenschweine sind eben so“ und „sie haben überall ihre Finger drin / die USA in der Tasche / lassen die deutsche Regierung am Gängelband tanzen“ usw. usw..
  • Doppelstandards
    Seit etwa 2000 Jahren ist ein klares Zeichen von Antisemitismus, die Juden anders als andere Menschen zu behandeln, angefangen von den diskriminierenden Gesetzen, die viele Nationen gegen sie erlassen hatten, bis hin zu der Neigung, ihr Verhalten mit einer anderen Messlatte zu messen. Da ist ein nichtjüdischer Unternehmer eben „ein cleverer Geschäftsmann“, ein Jude mit dem gleichen Geschäftsgebaren ein „jüdische Wucherer“, ein „Blutsauger“, ein „kalt lächelnder Betrüger“, usw..
    Was Israelkritik angeht: Wird eine ähnliche Politik anderer Regierungen oder ein ähnliches Vorgehen anderer Armeen mit den gleichen Maßstäben wie die Israels gemessen, oder wird hier ein doppelter Standard eingesetzt?
    Die chinesische Regierung gerät z. B. wegen Xinjiang-Konflikt (mit den Uiguren) nicht in den Fokus der Weltöffentlichkeit, und der ähnliche Tibet-Konflikt hat nur wegen einer handvoll engagierter Tibet-Unterstützer einen gewissen medialen Stellenwert. Es gibt anhaltende Kriege, z. B. im Kongo, die einfach von der Weltöffentlichkeit „vergessen“ werden. Sogar der blutige Bürgerkrieg im benachbartem Syrien wird vom Krieg im Gaza-Streifen übertönt. Das macht das, was israelische Politiker im Gaza-Streifen anrichten, zwar nicht besser, zeigt aber, dass der Palästina-Konflikt „etwas Besonderes“ ist.
    Ein Gedankenexperiment: Wie würde die deutsche Reaktion aussehen, wenn eine kleine Handvoll polnischer Terroristen Deutschland mit Raketen beschießen würde – mit den Hinweis auf immer noch nicht gesühntes Unrecht, das die Deutschen an Polen verübt hätten und auf die offen von Angehörigen einer deutschen Regierungspartei erhobene Ansprüche auf polnisches Staatsgebiet? Ich bin mir leider verdammt sicher, dass dann die übergroße Mehrheit der deutschen Bevölkerung und vor allem der deutschen Medien nicht von „einzelnenen durchgeknallten polnischen Terroristen“, sondern von „den Polen“ reden würde. Es wäre für deutsche Scharfmacher leicht, selbst einen militärischen Angriff auf Polen als „legitime Verteidigung“ zu verkaufen.
  • Delegitimierung
    Antisemiten versuchen seit eh und je, die Legitimität der jüdischen Religion, des jüdischen Volkes, oder von beiden, zu verneinen. Etwa in dem Sinne des christlichen Antijudaismus, dass die „alte Religion“ durch das Christentum abgelöst sei, oder, „völkisch“ argumentiert, dass die jüdischen Minderheiten in aller Welt so mit ihren „Wirtsvölkern“ vermischt und so kulturell assimiliert seien, dass es so etwas wie „jüdische Volksgruppen“ gar nicht mehr gäbe.
    Heute versuchen israelkritisch auftretende Antisemiten die Legitimität des jüdischen Staates zu verneinen, indem sie ihn unter anderem als das letzte Überbleibsel des Kolonialismus darstellen. Während die Kritik an israelischer Politik nicht antisemitisch sein muss, ist es immer antisemitisch, wenn das Existenzrecht Israels angezweifelt wird. Auch die Israelis haben ein Recht, in Frieden und Sicherheit zu leben.

Nebenbei bin ich der Ansicht: Wer die Schuldfrage beim Israel-Palästina-Konflikt stellt, will gar keine andere Zukunft als die des endlosen „Kampfes bis zu bitteren Ende“!

Darf man Israel und muss man die Hamas kritisieren? (Spiegelfechter)

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