Angst – der Treibstoff für die „neue Prüderie“

20. November 2018 | Von | Kategorie: Gjallarhorn Weblog

Die „neue Prüderie“, auch „Neoprüderie“ genannt, ist ein rätselhaftes Phänomen der letzte 30 Jahre. Das Schamgefühl hat offensichtlich nicht zugenommen, der Körperkult einschließlich Selbstoptimierung und Körpermodifikationen boomt mehr denn je, und mit sexuellen Themen wird offener umgegangen als sogar in Zeiten der „Sexwelle“ und der scheinbar unverklemmten „Swinging Seventies“. Trotzdem gibt es sie, die wachsende Scheu vor der bloßen Haut.

Für die „neue Prüderie“ gibt mehrere Ursachen (eine ganz wichtige ist Bodyshaming), aber sie alle haben eines gemeinsam: den Faktor „Angst“.

Die „neue Prüderie“ hat eines mit der „echten“ Prüderie, der Angst vor der Sexualität, gemeinsam: Nacktheit wird automatisch mit Sex konnotiert. Prüde Menschen können sich nicht vorstellen, Nacktheit zu sehen, ohne sexuell erregt zu sein. Das gilt auch für „neoprüde“ Menschen, die sich von den prüden dadurch unterscheiden, dass sie sexuelle Erregung grundsätzlich nicht als etwas „Falsches“ wahrnehmen. Prüderie ist Körperscheu aus mehr oder weniger ausgeprägter Sexualfeindlichkeit, „neue Prüderie“ hingegen grundsätzlich „sex positive“, aber körperscheu.

Nun ist es aber so, dass Sex meistens sehr privat und für die meisten Menschen sehr stark mit Schamgefühlen verbunden ist. Für „Neoprüde“ ergibt sich daraus: Nacktheit ist im Privaten okay, öffentliche Nacktheit aber skandalös, da sie mit „Sex in der Öffentlichkeit“ gleichgesetzt wird.

Nur weil „Nacktheit“ automatisch gedanklich mit „Sex“ gleichgesetzt wird, gibt es das weit verbreitete und unzutreffende Klischee, ein Mann am FKK müsse ständig fürchten, einen „Ständer“ zu bekommen. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen bei FKK an „Schweinkram“ am Strand, zumindest an Exhibitionismus, denken.
Auch der extrem restriktive Umgang mit Nacktheit auf „Facebook“ und andere „Social Media“ ist das Resultat einer festen gedanklichen Verbindung zwischen Nacktheit und sexueller Erregung.
Für Menschen, die „sexuelle Erregung“ und „nackte Haut“ nicht trennen, ist folglich jede Darstellungen nackter Menschen „Softporno“ oder, in deftiger Alltagssprache, „Wichsvorlage“. Prüde Menschen halten Softpornos und manuelle Selbstbefriedigung an sich für ein Übel, „neoprüde“ Menschen verurteilen weder das eine noch das andere. Sie meinen nur „so etwas“ gehöre nicht in die Öffentlichkeit.
Ein besonders heikler Punkt: Nun wegen der Gleichsetzung „Nacktheit = Sex“ werden auch nicht-sexualisierte Darstellungen nackter Kinder als „Kinderpornographie“, also Darstellung sexualisierter Gewalt gegen Kinder, wahrgenommen. Das Urlaubsfoto „unser vierjähriger Nackidei am Strand“ landet damit in einen Zusammenhang, in den es nicht gehört. (Nebenbei: Ich bin sehr wohl der Ansicht, dass private Fotos von Kindern privat bleiben sollten, schon wegen der Persönlichkeitsrechte der Kinder. Ob sie darauf Höschen anhaben oder nicht, ist dabei nebensächlich.)

Die Konnotation „Nacktheit bedeutet Sex“ schiebt im Zuge der „neuen Prüderie“ andere Konnotationen wie die zwischen Nacktheit und Freiheit, Gleichheit, Unbeschwertheit, Unschuld oder Natürlichkeit beiseite.

Larsson: Sommerliches Bad

Anhand von drei Beispielen versuche ich, dem Phänomen „Neoprüderie“ ein wenig näher zu kommen. Zwei aktuellen Beispielen für vermeintlich prüdes Verhalten steht ein Beispiel für offenkundige Nicht-Prüderie gegenüber.

1. Warum gehen Frauen nicht mehr „oben ohne“ an den Strand?

In der 1980er Jahren sah es eine Weile so aus, als sei das Bikini-Oberteil eine vom Aussterben bedrohte Spezies. Auf alle Fälle gab es eine „oben ohne“-Mode und wenn ich mich richtig erinnere, galt es unter jungen Frauen als „spießig“, etwa gegen das Sonnenbaden mit bloßen Brüsten zu haben. Heute sind er gerade junge Frauen, die sich es nicht einmal vorstellen können, in der Öffentlichkeit die Brüste zu entblößen.

Im Gegensatz zu anderen Feldern der „neuen Prüderie“ lässt sich diese Erscheinung relativ leicht untersuchen. Die einfache Frage an Freundinnen, Bekannte und Verwandte (weiblich): „Würdest du ohne Bikini-Oberteil an den Strand gehen?“ und die weiterführende Frage, wenn die Antwort „Nein“ lautet, „Warum dann nicht?“ wird nach meiner (natürlich nicht repräsentativer) Erfahrung bereitwillig beantwortet.

Da die „Fallzahlen“ bei so einer privaten Umfrage naturgemäß seht gering sind, bieten sich andere Quellen an. Die Frage „Oben ohne oder nicht?“ wird nämlich in den Foren von Frauenzeitschriften, in Facebook-Gruppen und an anderen öffentlich zugänglichen virtuellen Orten freimütig diskutiert, wobei es hunderte von Antworten und Begründungen gibt. Dabei lässt sich vorab feststellen: Es gibt sehr viele Frauen, die für sich „oben ohne“ nicht vorstellen können, sie sind gegenüber denjenigen, die angeben, in passender Umgebung gern mal „oben ohne“ zu sein, anscheinend in der Mehrheit. Die „passende Umgebung“ ist meistens „da, wo mich niemand beobachten kann“ (sichtgeschützter Balkon, Garten mit hoher Hecke usw.), öffentliche Strände oder die Liegewiese um Park hingegen deutlich seltener. Die Naturistinnen bzw. FKK-Anhängerinnen sind eine, meines Erachtens eher kleine, Gruppe für sich, die allerdings ziemlich meinungsfreudig zu sein scheint. Ja, und dann wären da noch die Trolle und Fakes, mutmaßlich meist männlichen Geschlechts, die von allen Themen, die mit „Nacktheit“ zu tun haben, angelockt werden. Sie entlarven sich meistens ziemlich schnell selbst, und zwar durch eine überdeutliche sexuelle Konnotation.

Folgende Gründe dafür, sich nicht öffentlich „oben ohne“ zu zeigen, werden auffällig oft genannt. (Natürlich nicht repräsentativ, daher auch keine Zahlen.)

  • Die Angst davor, heimlich fotografiert zu werden – oft mit dem Hinweis auf Smartphones.
  • Angst davor, dass der Busen nicht schön genug sei (also als Reaktion auf Bodyshaming).
  • Angst vor sexueller Belästigung durch Männer – das reicht von „anzüglichen Blicken“ über „doofe Macho-Sprüche“ bis zu handgreiflichen Belästigungen („Grapschen“).

Zu der ersten Angst lässt sich ohne Weiteres sagen, dass sie begründet ist. Vor 30 Jahren wäre es noch mit einigem Aufwand verbunden gewesen, „Spannerfotos“ zu machen, ohne aufzufallen. Die mittels Teleobjektiv aus dem Gebüsch oder mit der in der Brotdose versteckten Pocket-Kamera gemachten Bilder wurden dann praktisch nie veröffentlicht.
In den 1990er Jahren änderte sich das schlagartig durch das Aufkommen kompakter elektronischer Kameras, deren Fotos auch nicht mehr entwickelt werden mussten, und durch das World Wide Web. Die Situation verschärfte sich dann noch einmal, als Smartphones und „Social Media“-Plattformen aufkamen. Die Angst davor, heimlich nackt oder doch „oben ohne“ fotografiert zu werden, und dass diese Fotos dann „im Internet“ landen, hat eine reale Grundlage.

Ob die zweite Angst seit den 1980er Jahren zugenommen hat, kann ich nicht mit harten Fakten untermauern, der subjektive Eindruck ist „Ja“. Dass sich so viele junge Frauen Sorgen um das Aussehen ihrer Brüste machen, ist meines Erachtens eindeutig eine Reaktion auf „Bodyshaming“. Es fällt mir nämlich auf, dass ältere Frauen eine gewisse Nonchalance gegenüber ihren „nicht mehr so prallen“, hängenden, faltigen usw. Brüsten zeigen. Ich vermute, dass ist so, weil Bodyshaming unter Teenagern und jungen Erwachsenen am Heftigsten ist.

Dass die „optischen Ansprüche“ an Brüste seit den 1980er Jahren gestiegen sind, ist nicht von der Hand zu weisen. Zwar waren Abbildungen nackter Brüste damals noch weiter verbreitet als heute, aber sie waren im Vergleich weniger „perfekt“: Die Möglichkeit der elektronischen Bildbearbeitung und die Fortschritte in der kosmetischen Chirurgie sind unübersehbar. Aber schon bei der „Sexwelle“ der späten 1960er und frühen 1970er-Jahre gehörten die meisten abgebildeten „blanken Busen“ jungen, „normschönen“ Frauen – Norm: „eine gute Handvoll“, prall, nicht hängend. Sehr große Brüste sah man damals allenfalls in „Herrenmagazinen“, sehr kleine oder hängende überhaupt nicht.
Anders gesagt: Seit über 50 Jahren wachsen junge Menschen auf, deren Vorstellungen, wie eine „normale“ weiblich Brust auszusehen hat, nicht der realen „Normalität“ entspricht. Wobei in dieser Zeit immer mehr der abgebildeten Brüste chirurgisch „nachgebessert“, vergrößert beziehungsweise gestrafft, sind. Dabei sind, im Sinne der „neuen Prüderie“ , weniger die offensichtlich „gemachten“ übergroßen „Ballonbrüste“ das Problem – sie sind ja nicht „normschön“ – sondern „gut gemachte“, weniger auffällig verschönerte Brüste. Die Retusche mit Photoshop usw. in Richtung „normschön“ wurde ab ca. 1990 geradezu Standard.
Dazu kommt ein „Teufelkreis“ der Wahrnehmung: In den 1980er hatten junge Menschen noch die Möglichkeit, sich am Strand davon zu überzeugen, wie nackte „echte Brüste“ aussehen. Heute fehlt diese Korrektur weitgehend.

Beim dritten Grund, der sexuellen Belästigung, habe ich keine Möglichkeit, nachzuprüfen, ob und was sich seit den 1980er Jahren geändert hat. Allerdings gibt es Aussagen von Frauen, dass „die Russen“ und „die Türken“ besonders „unverschämt“ wären, oft verbunden mit der Behauptung, diese jungen Männer hätten sich „früher“ so was nicht getraut. Ich habe keine Möglichkeit, hier tatsächliche Erlebnisse von Vorurteilen zu unterscheiden.

2. Der „nackte Osten“

Bei meinen Recherchen stieß ich allerdings auf eine bezeichnende Ausnahme: Sexuelle Belästigungen nackter Frauen an den Ostseestränden Mecklenburg-Vorpommerns in der Zeit um 1990. In der DDR hatte sich eine „Nacktbadekultur“ herausgebildet, die sich deutlich von der im an sich keineswegs FKK-feindlichen „Westdeutschland“ unterschied. Kurzfassung: FKK-West war durch FKK-Vereine mit abgezäuntem Gelände, durch eigens ausgewiesene FKK-Strände abseits der „Vorzeigestrände“ der Seebäder und durch abgelegene Badeseen, an denen „wild“ nackt gebadet wurde, geprägt. FKK-Ost war nicht nur weiter verbreitet, sondern auch weniger abgegrenzt, an der Ostsee gab es viele „gemischte“ Strände. Nach der „Wende“ trafen West-Urlauber, nach deren Vorstellungen FKK gefälligst hinter Sichtschutz und Schlagbaum stattzufinden hätte, auf ungeniert nackte „Ossis“, die denen solche Vorstellungen fremd waren. Die Konnotation zwischen „Nacktheit“ und „Sex“ war im „Westen“ ausgeprägter als im „Osten“, auch eine Folge der im „Westen“ weit verbreiteten „Kommerz-Erotik“. Resultat: Manche „Wessi-Männer“ sahen in den nackt badenden „Ossi-Frauen“ hemmungslose Exhibitionistinnen, die sie dann teils auf unverschämte Weise „anmachten“, teils übel verspotteten. Wie auch die „Spannerexpeditionen“ zu den „Nacktstränden“ ist das eindeutig sexuelle Belästigung, fallweise sogar sexualisierte Gewalt.
Das ist mein Eindruck des von Boulevardmedien in den 1990ern gern zum Sommerlochfüllen gebrauchten „Höschenkrieges“ an der ostdeutschen Ostseeküste. Die viel zitierten West-Investoren, die mit dem FKK der weniger zahlungskräftigen „Ossis“ nichts am Hut hatten und deshalb die Nacktbadekultur an den Rand drängten, waren im „Höschenkrieg“ nicht die „vorderste Front“ – die „Sturmtruppen“, die ihnen den Weg bahnten, waren eine Handvoll teils machomäßig sexbesessener, teils extrem verklemmter und selbstgerechter „Wessi-Männer“ ohne Rücksicht und Manieren.

Eine mögliche Erklärung dafür, dass sich Frauen besonders oft von „Ausländern“, vor allem „Türken“ am Strand sexuell belästigt fühlen, könnte in vergleichbaren kulturellen Missverständnissen liegen, gekoppelt mit den in ausgeprägt patriarchaler Subkulturen üblichen Macho-Allüren. Wobei es entsprechende frauenfeindliche Subkulturen auch im „christlichen Abendland“ gibt, nur bilden „kartoffeldeutsche“ Spanner und Grapscher keine so leicht identifizierbare Gruppe.

Das „Geheimnis“ des „nackten Ostens“: Rechtssicherheit beim Nacktbaden

Angst ist offensichtlich die Ursache für anscheinend neoprüdes Verhalten ansonsten nicht-prüder Menschen. Der Fall der sexualisierten Belästigungen an mecklenburg-vorpommerschen Ostseestränden weist darauf hin, dass etwas in der DDR anders gelaufen ist, als in der alten BRD. Der „real existierende Sozialismus“ (an dem vieles sehr real war, am wenigsten allerdings der Sozialismus) kann es schwerlich sein, weder in der UdSSR noch in Polen, noch in Rumänien gab es FKK als Massenbewegung. Wobei „Massenbewegung“ nicht bedeutete, dass in der DDR praktisch jede oder jeder nackt an den Strand ging. Nackt baden und sonnenbaden war lediglich deutlich populärer als in „Westdeutschland“, das wiederum zu den „nacktfreudigsten“ „westlichen“ Ländern gehörte.
Als Anfang der neunziger Jahre in „westdeutschen“ Boulevardzeitungen der „Höschenkrieg“ die Sommerlochzeit bestimmte, da erzählten mir „Eingeborene“ in Mecklenburg stolz, dass das Recht auf Nacktheit ein Stück Freiheit wäre, das vom Volk zu DDR-Zeiten der realsozialistischen Obrigkeit mühsam abgerungen und zäh verteidigt worden wäre. Fast kam es mir vor, als ob die stolzen Ost-Nackedeis sich zu „Widerständlern“ und „Freiheitskämpfern“ stilisieren würden. Andere, vor allem im den „gebrauchten Bundesländern“, sahen einen Zusammenhang zwischen „kommunistischer Gleichmacherei“ und „Nacktkultur“. Sowohl in „Osten“ wie im „Westen“ gab und gibt es Menschen, die vermuten, dass die DDR-Oberen die FKK-Strände bewusst als „Ventil“ gelassen hätten, als „kleine Freiheit“ in einem durchgeplanten und durchorganisierten System.

Sehen wir uns einmal an, wie Rechtslage in der DDR aussah:

Anordnung zur Regelung des Freibadewesens
vom 17. Mai 1956 in der Fassung vom 18. Mai 1958

Um allen Werktätigen in den Sommermonaten einen ungestörten Ablauf des Erholungsurlaubs zu gewährleisten und insbesondere an der Ostseeküste Behinderungen des Badens auszuschließen, wird folgendes angeordnet:

§ 1
(1) Das Baden ohne Badebekleidung (Wasser-, Luft- und Sonnenbaden) an Orten, zu denen jedermann Zutritt hat, ist nur gestattet, wenn diese Orte ausdrücklich dafür von den zuständigen Räten freigegeben und entsprechend gekennzeichnet sind oder das Baden ohne Badebekleidung von unbeteiligten Personen unter den gegebenen Umständen nicht gesehen werden kann.
(2) Diese Bestimmung gilt nicht für Kinder unter 10 Jahren.
(3) Badende haben jedes Verhalten zu unterlassen, das geeignet ist, öffentliches Ärgernis zu erregen.

§ 2
Die Bildung von Vereinigungen, deren Ziel darin besteht, die Freikörperkultur zu organisieren, zu fördern oder zu propagieren, ist untersagt.

§ 3
Auf Grund der Ermächtigung des Ministerats vom 17. Mai 1956 wird folgendes angeordnet:
Wer vorsätzlich oder fahrlässig den Bestimmungen dieser Anordnung zuwiderhandelt, wird mit Geldstrafe bis zu 150 DM oder mit Haft bis zu zwei Wochen bestraft, soweit nicht nach anderen Bestimmungen eine höhere Strafe verwirkt ist.

§ 4
(1) Diese Anordnung tritt mit ihrer Verkündung in Kraft.
(2) Gleichzeitig tritt die Polizei vom 10. Juli 1942 zur Regelung des Badewesens (RGBl. I S.461) außer Kraft.

Berlin, 18. Mai 1958

Ministerium des Innern

Maron

Minister

Übersetzt ins Alltagsdeutsche bedeutet Paragraph 1: „Überall, wo der zuständige Gemeinde- oder Stadtrat ein Schild mit der Aufschrift ‚Hier FKK-Strand‘ aufstellen ließ, wird nackt gebadet. Auch da, wo es niemand sieht, sind Badeklamotten überflüssig. Für Kinder bis 10 ist nackidei an jeder Badestelle, jedem Strand und jeder Liegewiese erlaubt. Aber benehmt euch, sexuelle Übergriffe gehen gar nicht, und übrigens auch kein Sex am Strand!“

So weit, so gut. Das waren noch nicht einmal besonders freizügige Regeln, theoretisch liefen die Bestimmungen im „Westen“ auf das Gleiche hinaus. Nur die Altersgrenze, ab der wenigsten ein Höschen Pflicht war, lag in den meistens auf Stadt- oder Kreisebene geregelten „Freibadevorschriften“ niedriger, meistens bei sechs Jahren. Übrigens gab es auch Gebiete, in denen man solche Regelungen schlicht für überflüssig hielt.

Der Unterschied lag darin, dass die DDR-Freibaderegeln einheitlich für die ganze Republik galten, und einfach und eindeutig waren. Sie boten Rechtssicherheit, während im Westen, vor allem in der südlichen Bundesländern, manche „empörte Bürger“ extra auf Leitern steigen, Ferngläser benutzen oder mit dem Boot in abgelegene Buchten fahren mussten, um sich durch „unverschämte Nudisten“ belästigt zu fühlen. Selbst wenn solche Klagen fast immer abgewiesen wurden: Allein die Möglichkeit, wegen „öffentlichen Ärgernisses“ angezeigt werden zu können, erhöhte den sozialen Druck auf potenzielle Nacktbader. Außerdem erhielten nicht wenige FKK-Strände und FKK-Gelände die Auflage, einen Sichtschutzzaun zu errichten – im „Osten“ reichte ein Schild aus.

Der Paragraph 2 zeigt dann den wahren Grund dafür, dass die DDR-Regierung ab 1956 „nacktfreundlich“ war: Es ging darum, die „lebensreformerische“ Ideologie, die sich die meisten FKK-Vereine auf die Fahnen geschrieben hatte, zu bekämpfen. Dabei dachten die „Kasernenhofkommunisten“, die in der SED und anderswo den Ton angaben, nicht, wie manchmal behauptet, allein an die „völkische“ Richtung der „Lebensreformer“. Ein Dorn im Auge war ihnen die „linke Lebensreform“, denn Kritik von „rechts“ stärkte die autoritären Staatssozialisten in ihrer Haltung, Kritik von „links“, womöglich mit völlig anderen Vorstellung, wie denn eine „entwickelte sozialistische Gesellschaft“ aussehen könnte, tat weh.
In Teilen der sozialistischen Arbeiterbewegung der Weimarer Zeit war die „Nacktkultur“ sehr populär gewesen. Eine Hochburg der gern nackt badenden und sonnenbadenden Vertreter der linken, linksliberalen und manchmal sogar anarchistischen Lebensreformer, unter ihnen auch einflussreiche Künstler und Intellektuelle, war der Strand der „Künstlerkolonie“ von Ahrenshoop.
In der NS-Zeit war die „Nacktkultur“ verboten, insbesondere die FKK-Vereine. Andererseits gab es auch völkische „Lebensrefomer“ die insbesondere die nackte Körperertüchtigung propagierten. Der „Bund für Leibeszucht“, eine NS-Organisation, bot eine Nische für jene „Nudisten“, die vor allem innen „nahtlos braun“ waren oder zumindest so opportunistisch, dass sie völkisch-rassistischen Ideologieschrott ertrugen. Der völkische Körperkult wurde vor allem von der SS propagiert.
1938 wurde das allgemeine „Nacktbadeverbot“ abgemildert. 1942 erließ „SS-Reichsführer“ Heinrich Himmler in seiner Funktion als stellvertretender Innenminister die „Polizeiordnung zur Regelung des Badewesens“, in der deren Paragraph 3 steht, dass einzelnen Personen oder Personengruppen öffentlich nackt baden dürfen, wenn sie unter den gegebenen Umständen annehmen können, das von unbeteiligten Personen nicht gesehen werden können, insbesondere auf einem Gelände, das hierzu freigegeben ist.
Diese auch nach 1945 noch bis auf Weiteres gültige Verordnung, Vorbild zahlreicher Baderegeln auf Landes-, Kreis und Gemeindeebene, trug unübersehbar Himmlers Handschrift:

§ 4
1) Die Badenden haben jedes Verhalten zu unterlassen, das geeignet ist, das gesunde und natürliche Volksempfinden zu verletzen.
(2) Eine Verletzung das gesunden und natürlichen Volksempfindens liegt nicht vor, wenn die Beschwerden eine offensichtlich lebensfremde oder grundsätzlich gegnerische Einstellung erkennen lassen.

In der Praxis bedeutete das, dass es aussichtslos war, sich über nackt badende Wehrmachts- und vor allem SS-Angehörige zu beschweren, egal, wie rücksichtslos sich diese dabei verhielten. Eine heute wenig bekannte Tatsache, die allerdings nach 1945 zum schlechten Ruf der „Nacktkultur“ beitrug.

Nach dem Untergang des Nazireiches knüpften übriggebliebene und zurückgekehrte Anhänger der „linken“ Lebensreform an die Ahrenshooper FKK-Tradition an.
Aus dem Jahre 1951 stammt die oft erzählte Anekdote, wonach der damalige Kulturminister der DDR, Johannes R. Becher (bekannt als Dichter der DDR-Nationalhymne und bei Schülern in der DDR berüchtigt als Verfasser sozialistisch-patriotischer Gedichte) am Strand von Ahrenshoop eine hüllenlos die Zeitung lesende Frau angeherrscht haben soll: „Schämen Sie sich nicht, Sie alte Sau?“ Als er bei der Verleihung des Nationalpreises an die Schriftstellerin Anna Seghers, weltberühmt unter anderem durch ihren in Hollywood verfilmten Bestseller „Das siebte Kreuz“, zur Laudatio auf die „liebe Anna“ anhob, unterbrach ihn diese: „Für Dich, Hans, immer noch die alte Sau!“

Im Mai 1954 drohte das Aus für das „kleine Paradies“ der Künstlerkolonie an der Ostsee. Die für die Verwaltung der Ostseebäder zuständigen Stellen hatten „wegen verschiedener Ausschreitungen, die es im Vorjahre leider gegeben“ hätte, das Nacktbaden nicht mehr gestatten.
Eigenartigerweise konnte sich niemand an „Ausschreitungen“ erinnern. Es war außerdem ziemlich sicher, dass die Volkspolizei mit eventuellen Ausschreitungen locker fertig geworden wäre. Damit begann das, was man den „historischen Kern“ der Legende vom „erkämpften Recht auf Nackheit“ nennen könnte. Nach heftigem Protesten blieb der FKK-Strand der Künstlerkolonie eine geduldete Ausnahme. Hätte zu diesen Protestlern aber keine „bedeutenden Kulturschaffende“ und sogar einige SED-Funktionäre gehört, wäre das Nacktbaden in Ahrenshoop verboten worden.
Gegenüber den nacktbadenden einfachen Werktätigen war die DDR-Führung weniger nachsichtig. Am Strand von Prerow auf dem Darß, wo sich ein später legendärer FKK-Campingplatz befand, setzte die Volkspolizei das FKK-Verbot durch.
Eine Höhepunkt erreichte der Konflikt zwischen „Nudisten“ und „Staatsmacht“ im Sommer 1954 aus Anlass der „Kamerunfeste“: In „Kriegsbemalung“, mit Muschelketten behängt und nur einem Schilfröckchen bekleidet spielten sonst brave DDR-Bürger „afrikanische Wilde“. Der fröhliche Protest gegen einen zutiefst spießigen Staat hatte einen rassistischen Beigeschmack, der auch schon in den 1950er Jahren „gar nicht ging“. Da sich die DDR mit einigem Erfolg als der gegenüber der „reaktionären“ BRD moralisch bessere Staat darstellte, in dem es selbstverständlich keinen Rassismus und keinen unkritischen Umgang mit dem Kolonialismus mehr gäbe, sorgte sich der SED-Staat um sein internationales Ansehen. Als sogar die Westpresse in Gestalt des „Spiegel“ über das in mehrfacher Bedeutung unbekümmerte Treiben im „Kamerun“ genannten Strandabschnitt bei Bansin auf Usedom berichtete, und Gerüchte über ausschweifenden „Sittenfeste“ – gemeint waren Sexorgien am Strand – die Runde machten, sah der Generalinspekteur der Deutschen Volkspolizei Grund zum Eingreifen. Am 14. August 1954 weitete die DDR-Regierung das Nacktbadeverbot auf die gesamte DDR-Ostseeküste und das Stettiner Haff aus.

Doch das Verbot stachelte Protest an, wobei die FKK-Anhänger „von links“ argumentierten. Die sozialistische Freikörperkultur wäre ein Sieg über „spießbürgerlich-kapitalistische und religiöse Vorurteile“. Die FKK-Gegner um Becher gerieten in die Defensive und machten sich zunehmend lächerlich. Das Verbot hatte einer milden, aber für die Obrigkeit unangenehmen Protestbewegung Vorschub geleistet. Nachdem die Proteste auch nach zwei Jahren nicht nachgelassen hatten, ruderte die DDR-Regierung zurück. Im Juni 1956 erließ die DDR deshalb die oben zitierte „Anordnung zur Regelung des Freibadwesens“. Nacktbaden hatte nun, mit Einschränkungen, den staatlichen Segen, während die Propagandisten eines „lebensreformerischen Sozialismus“ durch den Paragraphen zwei der Anordnung wirksam an die Kette gelegt wurden.

Neben der größeren Rechtssicherheit lag es auch daran, dass die „im Westen“ starken Gegenkräfte, etwa aus konservativ-christlichen Kreisen gegen die „Nudisten“ weitgehend fehlten, dass FKK in der DDR bald zur Massenbewegung wurde. Was, wie gesagt, nicht bedeutete, dass die DDR quasi badekleidungsfreie Zone gewesen wäre.

3. Warum dürfen kleine Kinder nicht mehr nackt herumlaufen?

Wer über 40 ist und jeden Sommer Strände oder Badeseen besucht, wird vielleicht beobachtet haben, dass nackte Kinder selten geworden sind. Das war Anfang der 1990-Jahre noch anders, kleine „Nackedeis“ waren auch an Stränden im „Westen“ weit verbreitet und im „Osten“ sogar die Regel.
Dieses Phänomen wird vor allem von FKK-Anhängern gern als Beispiel für die „neue Prüderie“ gesehen, wobei die Ängste der Eltern um ihre Kinder oft bagatellisiert werden.

Die wichtigste Angst der Eltern ist die gleiche wie die der nicht mehr „oben ohne“ sonnenbadenden Frauen: Die Angst vor der Handykamera. Nackt herumtoben in einem nicht einsehbaren Garten ist für diese Eltern akzeptabel, auch wenn sich das mit der zunehmenden Verbreitung von Amateur-Drohnen ändern könnte.
Viele Eltern haben Angst davor, dass heimlich aufgenommene Fotos ihrer nackten Kinder auf „Pädophilenseiten“ im Internet landen und als „Wichsvorlage“ missbraucht werden könnten. Mit „neuer Prüderie“, wie ich sie oben skizzierte, hat das nur am Rande zu tun, da der für diese Zeiterscheinung typische Faktor „Bodyshaming“ fast völlig fehlt. Mit echter Prüderie, also Sexualangst, schon eher.

Wie Ida Luise Krenzlin es 2016 so schön ausdrückte:

Anscheinend stellen sich viele Eltern noch nicht einmal mehr die Frage, ob sie ihr Kind nackig herumlaufen lassen. Sie haben es bereits entschieden. Fragt man direkt nach, schaut man in verdatterte Gesichter. Man könnte auch fragen, warum sie ihren Kindern keine Gummibärchen zum Frühstück geben. Es steht einfach fest. Dass man Kinder zum Baden, am Strand oder auf dem Wasserspielplatz etwas anzieht, ist anscheinend längst Konsens.

Die manchmal hysterische Züge annehmende Angst vor fotografierenden Spannern ist auch mit einen anderen Phänomen verknüpft, das ebenfalls in den letzten Jahren stark zugenommen hat: Die „Helikopter-Eltern“, stets eifrig bemüht, alle möglichen und unmöglichen Gefahren von ihren Kindern fernzuhalten. Für Eltern dieser Art ist ihr Kind Mittelpunkt des Universums. Es ist für sie buchstäblich unvorstellbar, dass jemand, der am Strand eine Kamera dabei hat, nicht ihr Kind fotografieren will. Kommt nun auch noch die Angst vor den vermeindlich allgegenwärtign „Pädophilen“ hinzu, ist für diese Eltern der Fall klar. Wobei ein echter „Spannerfotograf“ wahrscheinlich gar keine sichtbare Kamera dabei hätte. Rationale Überlegungen kommen aber gegen die Ängste – und die Hysterie – der Eltern nicht an.

Das gilt auch für Totschlagargument: „Aber die ganzen Pädophilen!“ Die allermeisten Missbräuche, sprich sexualisierte Übergriffe gegen Kinder, gibt es bekanntlich im engeren Freundes-, Bekannten- und Familienkreis. Auch die Fälle sich an Kindern vergreifender Geistlicher, Erzieher und Trainer gehören in die Kategorie „Täter ist gut bekannt und genoss Vertrauen“. Eine wohl bekannte, aber unangenehme Wahrheit.
Viel angenehmer ist da die Schauergeschichte vom bösen Mann, der sich auf Spielplätzen, an Plantschbecken und an Badestränden herumtreibt, auf der Suche nach Opfern. Ja, solche Spanner gibt es. Meistens sind sie, abgesehen davon, dass sie lästig sind, verglichen mit übergriffigen Tätern eher harmlos. Aber sie haben den Vorzug, „Fremde“ zu sein.
Ähnlich ist es mit den „Kinderpornos im Internet“. Für die Verbreitung von Darstellungen sexualisierter Kindesmisshandlungen, wie „Kinderpornos“ korrekterweise genannt werden sollten, ist das öffentlich zugängliche WorldWideWeb von eher marginaler Bedeutung. Und die Tat selbst geschieht nicht etwa „im Cyberspace“, sondern ganz real, die Opfer sind lebendige Kinder.
Daher ist es kein Zufall, dass die öffentliche Meinung gegen Ende der 1990er Jahre von „Kinder dürfen ruhig nackig sein“ in „zieht den Kindern immer etwas an“ umschlug. Das Misstrauen gegen das noch neue „Internet“ und die gewachsene reale Gefahr, dass mit Digitalkameras und wenig später Handykameras Spannerfotos gemacht wurden, fielen zeitlich zusammen.

Cover: Welle Erdball - Der Sinn des Lebens
Schon 1998 machte sich die deutsche Band „Welle Erdball“ über diese Art der „neuen Prüderie“ lustig.

Übrigens ist es naiv, anzunehmen, ein pädophiler Spanner würde sich kleine Mädchen in Bikinis nicht ansehen. Bikinis sind ein sexualisierendes Kleidungsstück, eine knapp verhüllte erwachsene Frau zieht die Blicke der meisten heterosexueller Männer eher an, als eine komplett nackte. Bikini-Oberteile täuschen sogar etwas vor, was bei kleinen Mädchen noch gar nicht vorhanden ist. Damit werden diese Mädchen unter Umständen sogar für „Nicht-Pädophile“ attraktiv. Wenn dann Badewäsche für Kinder sogar als ausdrücklich als „sexy“ beworben wird, setzt meine „Pädo-Hysterie“ ein: Die Bademoden-Branche, von Pädophilen unterwandert?

Warum steckt den diese Hysterie so stark an, auch unter sonst gelassenen Eltern, die nicht zum „Helikoptern“ neigen? Es ist wahrscheinlich die Angst davor, als „unverantwortlich“ und „leichtsinnig angesichts der Gefahr“ angeprangert zu werden, wenn sie ihre Kinder doch einmal nackt am Strand herumbuddeln ließen. Hinzu kommt die ebenfalls von berechtigter Besorgnis in Hysterie umgeschlagene Angst vor UV-Strahlung, allerdings ist das ein anderes Thema.
Eine weitere wirksame Angst ist die Angst davor, für einen „Pädophilen-Freund“ oder gar selbst für einen „Pädo“ gehalten zu werden. Was auch ein Thema für sich wäre.

Fazit:

Wenn „heutzutage“ im Vergleich zu den 1980er Jahre nur noch wenige Frauen „oben ohne“ an den Strand gehen, FKK auch in den „neuen Bundesländern“ auf dem Rückzug ist und es kaum noch Eltern gibt, die es wagen, ihre Kinder nackt herumtollen zu lassen, dann hat das wahrscheinlich wenig mit Schamhaftigkeit und noch weniger mit Sexualfeindlichkeit zu tun. Die Ursache für vermeidliche Neoprüderie ist Angst, beziehungsweise Unsicherheit.

Martin Marheinecke

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Ein Kommentar
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  1. Vielen Dank für die Einblicke 🙂

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