Als die Sau noch Göttin war

29. Mai 2011 | Von | Kategorie: Odins Auge Artikel, Ætt Feature

Noch immer haben die meisten Zeitgenossen, wenn von Germanen die Rede ist, Bilder im Kopf, die aus dem Kuriositätenmuseum der Nationalromantik stammen. Vom „blonden Recken“ bis zum „Arier“ der Nazis ist es anscheinend nur ein kleiner Schritt. Befasst man sich jedoch eingehender mit germanischer Kultur, Geschichte und Mythologie, gewinnt man eher den Eindruck: Einen Hitler hätten historische Germanen nicht bejubelt, sondern umgebracht.

Vorwort, oder: warum, wieso, weshalb

“Die alten Germanen, sie lagen /
zu beiden Ufern des Rheins /
Sie lagen auf Bärenfellen /
und tranken immer noch eins.”

Dieser leicht dümmliche Spruch, gefunden auf dem Etikett einer im fränkischen Bayreuth erstandenen Flasche Met, spiegelt eins der wohl noch harmloseren Klischees über “die Germanen” wider.

Wildschwein - nach einer antiken Bronzefibel

Auf wild wogenden Wellen heranwallende wotanwütige Wagner-Wikinger mit Hörnerhelmen, darüber wolkenreitende Walküren, die nach wie vor hurtig (hoyotoho!) durch die sog. Hochkultur von Oper und Operette herumgeistern, sind höchstens abschreckend lächerlich und schaden, möchte man meinen, doch eigentlich niemandem – auch wenn solche Figuren mit der vormittelalterlichen Wirklichkeit Europas ebensowenig zu tun haben wie z.B. (sagen wir mal) die Lebenswirklichkeit nordamerikanischer Ureinwohner mit der altdeutsch eingekitschten Indianerromantik eines Karl May.

Wenn jedoch ein Rechtsradikaler Amok läuft, auf Menschen schießt und anschließend behauptet, er habe Mord und Mordversuche “im Auftrag Odins” begangen, wird die Sache schon etwas ernster – besonders, wenn sich niemand über einen solchen Zusammenhang groß wundert oder ihm gar widerspricht. So geschehen 1996 im rheinischen Recklinghausen – aber nicht nur dort, und nicht nur dann. Anderes Beispiel, eines von vielen: Der berüchtigte Berliner Neonazi Arnulf Priem nennt seine paramilitärische Terrorgruppe “Wotans Volk”, und keiner widerspricht ihm. Auch zahlreiche andere Gruppen, vom rassistischen “Armanen-Orden” bis zur faschistischen “Wiking-Jugend”, berufen sich auf angeblich “germanisches” Erbe, benutzen willkürlich Runen und andere germanische Symbole, und keiner widerspricht ihnen. Warum auch? Es ist ja allgemein bekannt, dass sich die Nazis auf die “alten Germanen” beriefen, sich ihrer Symbolik und ihres Mythenschatzes bedienten. Und spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind Germanentum und Sieg-Heil-Gebrüll für die meisten zivilisierten Menschen dieselbe oder doch zumindest die gleiche braune Soße. Germanentum, jegliches: heutzutage (ist es) zutiefst diskreditiert, auch und gerade für die seriöse Wissenschaft. Der Holocaust erschreckte die zivilisierte Menschheit, doch was unterscheidet die deutschen Verbrechen wirklich von denen eines Pol Pot, eines Bokassa oder eines Stalin? Nicht die ungeheure Zahl der Opfer, auch nicht die Mordmethoden, die m.E. nur (den Schattenseiten) der jeweiligen Kultur entsprechen, nein: Es ist der ideologische Hintergrund – er allein macht die Verbrechen Hitlerdeutschlands so schwer vergleichbar mit den anderen und sonstigen Barbareien unserer Epoche.

Der Rassismus der Nazis – und die (heutzutage so auffällig schwer begründbare) Begeisterung des damals fast gesamten deutschen Volkes für Hitler – hatte letztlich auch und vor allem okkulte Wurzeln, die fern jedes zivilisatorischen Verständnisses lagen. Die Menschheit (inklusiv mancher Deutscher) erschrak nach der lückenlosen Aufdeckung der Naziverbrechen tatsächlich. Mit solch einem grauenhaften Sumpf wollte man nichts (mehr) zu tun haben. Und genau deshalb fand eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den pseudoreligiösen Inhalten der Nazis niemals statt, nicht in den Nürnberger Prozessen, und schon gar nicht danach. Der seitdem andauernde stillschweigende Großversuch, das Thema ausschließlich rational zu erklären, füllt Bände und Filmrollen ebenso tonnenweise wie vergeblich. Was ebenfalls nicht stattfand, war eine Rehabilitation der Germanen. Das lag wohl auch an der Scham einer internationalen Wissenschaft, die im 19. Jh. drauf und dran gewesen war, krudesten Rassismus salonfähig zu machen – dies im Gefolge einer (nach heutigen Maßstäben und Erkenntnissen gründlich unwissenschaftlichen, jedenfalls aber unreflektierten) Begeisterung für angeblich germanisch-keltische Wurzeln des Abendlandes, die absurd zu überhöhen und zu idealisieren um die Jahrhundertwende offensichtlich Mode war. Oder inhumane Konsequenz: denn schließlich musste weltweiter Kolonialismus gerechtfertigt werden – ausgerechnet von Nationen, deren Religion angeblich die Nächstenliebe war und ist.
Dieser offensichtliche Widerspruch zwischen Sklavenhalterei und Ausbeutung einerseits und christlicher Bergpredigt anderseits ließ sich wohl nur mit der Lehre von “unterschiedlich wertvollen Rassen” übertünchen. Groteske Ergebnisse solcher Bemühungen waren u.a. die Theosophie im allgemeinen und deren Kind, die Ariosophie, im besonderen.

Kurze Erklärung: Die Anhänger der Ariosophie behaupten (damals wie heute), die Menschheit stamme angeblich vom fernen Stern Aldebaran. Auf der langen Reise zur Erde hätten sich die “fünf Wurzelrassen” der Menschheit illegal miteinander vermischt, das Ergebnis seien “niedere” und “minderwertige Rassen” auf der Erde, die dazu bestimmt seien, von den “höheren Rassen” beherrscht zu werden. Als “höher” gelten dabei die Hellhäutigen und (im Idealfall) Blondhaarigen, die sich vor weiterer Vermischung schützen müssten, um nicht unterzugehen. Eine einfache Sündenbock-Theorie: Denn was an den angeblich “höheren Rassen” im Einzelfall nicht astrein sein sollte, verschulden laut Ariosophie immer die anderen, die “dunklen”. Da natürlich niemand perfekt ist, geht diese Sündenbock-Rechnung immer auf: Die Feindbilder können wechseln, ein Feind – auf den das eigene Minderwertigkeitsgefühl projiziert wird – ist aber immer präsent.
Der aus all dem letztlich resultierende fremden- und judenfeindliche Okkultismus der Nazis hat sich fast wahllos germanischer Symbolik bedient und diese gründlich missbraucht – seit Auschwitz haftet auch allem Germanischen der Ruch des Verbrechens an, zumindest für aufgeklärte und rationalistische Zeitgenossen. Die weniger rationalistischen indes, namentlich sogenannte Neuheiden, neigen heute dazu, in dieselben Fallen zu tappen wie ihre historischen Vorgänger vor über 100 Jahren. Theosophie und Ariosophie, die metaphysischen Grundlehren für rassistische Verschwörungstheorien aller Art, feiern unter zeitgenössischen esoterischen Sinnsuchern unerkannt giftige Urständ´.
Doch bleiben wir einstweilen bei der Mehrheit. Die tiefe, ja beinahe instinktive Ablehnung all dessen, was irgendwie “germanisch” riecht, geht leider so weit, dass das Thema heute niemanden mehr interessiert.

Weiter: Nazis und Germanen – der unerkannte Gegensatz

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3 Kommentare
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  1. Super! Lange hab ich nach solch durchdachten Aussagen gesucht. Selber bin ich nur einfacher Realschüler gewesen und hatte durch vieles Arbeiten und durch Kontakt zu besagten Kreisen nicht die Möglichkeit mich ordentlich zu informieren. Rechtes Gedankengut sowie die angelernte, dressierte christliche Erziehung und ihre Werte zum Grossteil abzustreifen um mein eigenes Leben zu führen, bedeutet für mich ein Martyrium ersten Ranges.

    Auf Ihre Gedanken werde ich aufbauen!

    Gruss, Johann aus München

  2. Übrigens: ich weiß sehr wohl, dass die „germanische Sau“ wahrscheinlich keltisch und eher ein Keiler ist.

  3. […] er „heillos“ geworden war. (Zum Begriff des „Heils“ im germanischen Sinne: „Heil“ und „Als die Sau noch Göttin war“, beides von […]

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