20 populäre Irrtümer über Wikinger

15. September 2011 | Von | Kategorie: Erforscht & Entdeckt, Ætt Feature

Einer der populärsten Irrtümer über Ásatrú ist, dass es sich um eine Art „Wikinger-Kult“ handeln würde – so etwas wie Reenactment mit spirituellem Über- bzw. Unterbau.
Ums kurz zu machen: Ásatrú ist kein Versuch, den „Glauben der heidnischen Wikinger“ wiederzubeleben. Selbst wenn wir das wollten, gäben die Quellen dazu nicht genügend her. Und warum sollten wir es wollen? Die Zeiten sind andere, und schließlich ist auch das Christentum heute glücklicherweise nicht mehr dasselbe wie z. B. zur Zeiten der Kreuzzüge. (Zugegeben: es gibt Christen, die tief im Kreuzritter-Denken stecken. So, wie es auch Asatrúar geben soll, die am liebsten Morgen früh zu einem fröhlichen kleinen Raubzug aufbrechen würden. Zu denen wir nicht gehören: Kein Kloster muss fürchten, von uns geplündert und gebrandschatzt zu werden.)

Allerdings kann niemand von uns leugnen, dass wir es mit den Göttern haben, mit denen es auch die ollen Wikinger hatten. Und dass wir an Traditionen anknüpfen, die aus einer Kultur stammen, die eben nicht nur die parlamentarische Demokratie, sondern auch die Wikinger hervorgebracht hatte. Dass uns Werte wichtig sind, die auch dem einen oder anderen, der einst sein Wogenross bestieg, um auf viking zu fahren, etwas bedeuteten.
Dass es uns daher manchmal doch ein klein wenig ärgert, wenn über die Wikinger blühender Unsinn berichtet wird.
Wikingerschiff

1.“Die Wikinger waren ein Volk“

Wikinger war nie eine Bezeichnung für ein Volk oder eine Volksgruppe, auch wenn der Sprachgebrauch, selbst der von Fachleuten, darauf hinzudeuten scheint.
Es ist nun einmal einfacher zum Beispiel von „Wikingerschiffen“ statt historisch korrekt von „nordeuropäischen kombinierten Ruder-Segel-Kriegsschiffen des frühen Mittelalters bis frühen Hochmittelalters“ zu reden, auch wenn nicht alle diese Schiffe zur Viking verwendet wurden. Ähnlich ist es mit den „Wikingerkönigen“, der „Wikingerzeit“, den „Wikingersiedlungen“ und so weiter und so weiter.

Wikinger ist, salopp gesagt, eine Tätigkeitsbezeichnung. Das altnordische Wort víking (Femininum, also „die Viking“) bedeutet zunächst nur „weite Schiffsreise“. Ein „Wikinger“ wäre demnach jemand, der eine weite Schiffsreise unternimmt – egal, ob als Kaufmann, Siedler, Entdecker, Seeräuber oder Krieger. Das Wort vikingr bezeichnete jemanden, der die Viking zum „Beruf“ oder besser Lebensinhalt gemacht hatte. Vikingr erhielt im Laufe der Jahrhunderte eine zunehmend negative Konnotation, etwa im Sinne von „Pirat“. Es war zu dieser Zeit nicht ehrenwert, Vikingr zu sein, aber sogar im beginnenden Hochmittelalter galt es selbst für Könige als ehrenwert und das Ansehen fördernd, auf Viking gewesen zu sein, während Männer, die nie weit gereist waren, gering geschätzt wurden.

2. „Die Wikingerzeit begann mit dem Überfall auf das Kloster Lindisfarne“

Der Überfall auf das Kloster Lindisfarne in Nordengland im Jahre 793 gilt deshalb als „Beginn der Wikingerzeit“, weil dieser erfolgreiche Angriff auf ein reiches und gut befestigtes Kloster auch aufgezeichnet wurde. Es ist anzunehmen, dass er nicht der erste Überfall war. Schon zur Zeit der Merowinger gab es ähnliche Überfälle auf fränkisches Gebiet, nur der Begriff „Wikinger“ oder „Nordmannen“ war noch nicht gebräuchlich, es war in der Regel von „Seeräubern“ die Rede.

3. „Die Wikinger taten sich nur durch Kämpfen und Beutemachen hervor“

Das ist nur dann halbwegs richtig, wenn man „Wikinger“ auf die Vikingr genannten Seeräuber beschränkt. Die Viking war ja, siehe oben, allgemein eine „weite Seereise“. Die weitgehend friedliche Besiedlung Islands, Südwestgrönlands und der kleineren nordatlantischen Inseln kann genau so unter „Wikingfahrt“ verzeichnet werden, wie die ebenfalls nicht gewaltsamen Handelsreise bis in die fernsten Länder der damals bekannten Welt.

4. „Die Wikinger trugen Helme mit Hörnern“

Ein offensichtlich unausrottbares Klischee. Es sind nur wenige Helme aus der Wikingerzeit erhalten; keiner davon hat Hörner. Es gibt auch keine zeitgenössische bildliche Darstellung so einer Helmzier. Für einen Kämpfer wäre ein Helm mit seitlich angebrachten Hörnern auch äußerst ungünstig, da sie bei einem seitlichen Treffer einen Schwert- oder Axthieb zum Helmträger hin abgelenkt hätten. Bei einem Treffer von oben hätte die Gefahr bestanden, dass dem Träger der Helm vom Kopf gerissen worden wäre – was noch der harmlosere Fall wäre, denn ein fest sitzender Hörnerhelm würde bei einem ungünstigen Horn-Treffer dem Träger das Genick brechen!
Es gab zwar tatsächlich Hörnerhelme, jedoch stammten sie aus der Bronzezeit und dienten ausschließlich zeremoniellen Zwecken. Hörner gab es zuweilen auch als Helmzier an Helmen der Ritterzeit, allerdings nur bei Helmen, die ausschließlich im Turnier benutzt wurden, wo keine „unfairen“ Axt- oder Schwerthiebe drohten, außerdem war diese Zier nur aufgesteckt,
Sinngemäß gilt das auch für Helmflügel á la „alte Wagner-Inszenierung“, „Hermanns-Denkmal“ oder „Asterix“.
Wikingerhelm/casque Viking/Viking helmet
Foto: Londo42

5. „Die Lieblingswaffe der Wikinger war die schwere, doppelseitige Streitaxt“

Es stimmt zwar, dass die Wikinger Streitäxte verwendeten, deren Handhabung im Kampf zum Beispiel auf wikingerzeitlichen Bildsteinen eindringlich festgehalten wurde. Allerdings waren das eher leichte, meist einhändig geführte, immer einseitige Äxte. Es gibt keinen einzigen archäologischen Fund einer Doppelaxt aus dem frühmittelalterlichen Europa! Die am häufigsten gefundene und eingesetzte wikingerzeitliche Waffe war der Speer. „Lieblingswaffen“ im Sinne von besonders geschätzter, aber eher seltener Waffen waren die kostbaren Schwerter.
Die Warägergarde des byzantinischen (oströmischen) Kaisers (Waräger war die in Osteuropa übliche Bezeichnung für Wikinger) war als „die Axtträger“ bekannt, weil Streitäxte in der Armee ansonsten ungebräuchlich waren – und vielleicht, weil eine Axt eher zum Barbarenklischee passte, als die Speere oder die Langschwerter der Waräger. Neuzeitliche „Barbarenklischees“ sind es, die das falsche Bild des eine wuchtige Doppelaxt schwingenden Wikingers mit Hörnern am Helm bestimmen.

6. „Wikinger waren schmutzig und ungepflegt“

Im frühmittelalterlichen England galten die Wikinger als übertrieben reinlich, weil sie jede Woche badeten. Ibn Rustah,ein persischer Reisender, erwähnte ausdrücklich die Reinlichkeit der Waräger (östlichen Wikinger), und auch wenn der arabische Reisende Ibn Fadlan sich über deren unappetitlichen Art, sich zu reinigen, mokierte, widerspricht sein Bericht dem nicht. Bei Ausgrabungen wikingerzeitlicher Stätten sind Kämme, Rasiermesser, Pinzetten und „Ohrlöffel“ zum Reinigen der Ohren häufige Fundstücke. Die Nordeuropäer des Frühmittelalters stellten auch Seife her, die sie sogar exportierten

7. „Die Wikinger überquerten den Atlantik in offenen Booten“

Vor allem die in Gräbern gut konservierten Schiffe von Gokstad und Oseberg gaben schon Ende des 19. Jahrhunderts einen Eindruck davon, wie die Schiffe, die Wikinger für ihre europäischen Raubzüge benutzten, aussahen. Da sich Nachbauten des Gokstad-Schiffes als sehr seetüchtig erwiesen – ein Nachbau überquerte schon 1892 den Atlantik – entstand beim breiten Publikum der Eindruck, die wikingerzeitlichen Entdecker, Kolonisten und Fernhändler hätten auch solche offenen Fahrzeugen benutzt. Tatsächlich benutzten sie besondere Handelsschiffe, die breiter und hochbordiger waren als die bekannten Langschiffe, und Knorr genannt wurden. Knorren waren reine Segelschiffe und teilweise gedeckt.

8. „Wikinger waren unzivilisierte, analphabetische Barbaren“

Während noch zur Römerzeit ein deutliches kulturelles Gefälle zwischen der „römischen Welt“ und Nordeuropa bestand, kann das im frühen Mittelalters nicht behauptet werden. Einerseits brach die römerzeitliche Infrastruktur nach der Völkerwanderungszeit zusammen, anderseits holte der Norden gerade in dieser Zeit (der „Vendelzeit“) in der Sachkultur, in Handwerk und Kunst, deutlich auf. Schon die Runeninschriften zeigen, dass die wikingerzeitliche Kultur Nordeuropas nicht völlig analphabetisch gewesen sein kann, und Runen-Kritzeleien an byzantinischen Bauten und Statuen beweisen, dass auch die Krieger der Waräger-Garden nicht durchweg analphabetisch gewesen sein können – auch wenn es sicherlich barbarisch ist, seinen Namen in Kunstwerke einzuritzen, zeigt das doch, dass nicht nur eine kleine Elite eingeweihter Runenmeister schreiben konnte. Wikingerzeitliche Kleidung war, wenn es sich der Träger oder die Trägerin leisten konnte, farbenprächtig und aufwändig gearbeitet, weder primitiv noch „barbarisch protzig“.
Der hohe Stand der hochmittelalterlichen altnordischen Dichtung ist ohne eine lange dichterische Tradition nicht erklärbar, und die „Thingdemokratie“ in Island und in den atlantischen Siedlungsgebieten, das Modell des Parlamentarismus, entstand sicher auch nicht ohne eine lange politische Tradition der Volksversammlung und des Schöffengerichts.

9. „Die Wikinger waren außerordentlich grausam“

Es stimmt, dass Wikinger manchmal sehr brutal vorgingen. Allerdings sind Kriegshandlungen und Raubüberfälle grundsätzlich gewalttätig, weshalb die von zeitgenössischen Chronisten auf der Opferseite so eindringlich geschilderten Grausamkeiten der heidnischen Wikinger mit der damaligen Kriegsführung christlicher Heere verglichen werden müssen.
Zieht man die üblichen Übertreibungen und Gräuelgeschichten aus den Berichten der damals praktisch ein Schreibmonopol innehabenden Mönche ab, deuten selbst sie nicht darauf hin, dass die Beutezüge der Wikinger ungewöhnlich blutrünstig gewesen wären. Hingegen führte z. B. Karl „der Große“ regelrechte Vernichtungskriege, was man den Wikingern (und den wikingerzeitlichen nordeuropäischen Heerführern), bei aller Beutegier und Rücksichtslosigkeit, nicht nachsagen kann.

10. „Die Armeen der Wikinger waren groß“

Zuerst ist dazu zu sagen, dass nicht jedes nordeuropäische Heer der Wikingerzeit automatisch ein „Wikingerheer“ war. (Könige wie Sven Gabelbart oder Knut „der Große“ hätten es sich sicher verbeten, wenn ihre Heere so genannt worden wären.) Wikinger waren strenggenommen nur die eher kleinen Gruppen von Abenteurern / Räubern / Raubhändlern / Händlern, die sich aus eigenem Antrieb einem Anführer anschlossen. Aber selbst die in den Chroniken so genannten „großen Heere“ können so gewaltig groß nicht gewesen sein.
Die Flotte des dänischen Heerkönigs Göttrick (auch als Gudrød oder Gudfred bekannt), deren Landung auf den friesischen Inseln Karl „dem Großen“ Sorgen machte, hatte nach dem Chronisten Einhard 200 Schiffe. Selbst wenn das nicht, wie so oft in mittelalterlichen Chroniken, übertrieben war, hätten diese höchstens 8000 Mann tragen können. Wobei Göttrick der mächtigste Herrscher im Norden Europas war, und erst Harald Blauzahn und sein Widersacher Sven Gabelbart wieder ähnlich große Streitkräfte mobil machen konnten.
885 verfügte König Harald Harfargi (Schönhaar), dass jeder seiner Jarle 60 hirdmen, also Krieger in persönlicher Gefolgschaft, haben sollte, sowie vier hersir als regionale Anführer mit einem hird von jeweils 20 Mann. Diese etwa 140 Mann eines Jarls galten schon als Heer!
Zwar konnte im Kriegsfalls der leidang, eine Art Miliz, einberufen werden, die dann den Großteil des Heeres ausmachte, aber die Wikinger, die Europa im 9. und 10. Jahrhundert heimsuchten, waren so gut wie alle Hirdmen eines „niederen Adligen“ – wenn man einen Sohn eines Großbauern so nennen will.
Ein typisches „Wikingerheer“ bestand also aus höchstens ein paar tausend Mann, und ein Wikingerüberfall war eher ein „Kommandounternehmen“ eines kleinen Haufens Kämpfer als eine „Invasion“.

11. „Die Wikinger waren harte Kämpfer, aber tapfer und aufrichtig“

Die Sagas wie die Heldenlieder lassen keinen Zweifel daran, dass Listen – bis hin zu ausgesprochen schmutzigen Tricks – nicht nur regelmäßig angewendet wurden, sondern sogar als rühmenswert galten. Die typische Taktik war der Überraschungsangriff, und die Wikinger sahen zu, dass sie mit der Beute verschwanden, bevor der Gegner den Widerstand organisieren konnte. Das „Danegeld“ und andere Tributzahlungen waren bei Licht besehen Schutzgelderpressungen. Auch große Feldzüge mit politischen Zielen waren offensichtlich von einem harten Pragmatismus bestimmt. Der „Raubhandel“, spricht Hehlerei, und der Sklavenfang und Sklavenhandel zeigen, dass der Ehrbegriff auch der als Kaufleute tätigen Wikinger ziemlich einseitig gewesen sein muss.

12. „Alle Wikinger waren Nordgermanen“

Auch wenn die meisten Wikinger Skandinavier waren, und heute die frühmittelalterliche nordgermanische Kultur oft einfach als „Wikingerkultur“ bezeichnet wird, waren die Mannschaften auf den Wikingerschiffen, nach den Sagatexten zu urteilen, oft ethnisch bunt gemischt. Vor allem Balten, aber auch Ostseeslawen und Männer aus (Alt-)Sachsen und dem Rheinland (also „Südgermanen“, wenn man so will) gingen, zusammen mit „Nordmännern“, „auf Viking“. Nicht eingerechnet sind dabei Menschen, die unfreiwillig, als Knechte oder Sklaven mitgenommen wurden.

13. „Die Wikinger achteten auf die Reinheit ihrer Art“

Das ist eine fixe Idee neuzeitlicher Rassisten. Über die Hälfte der Vorfahren der heutigen Isländer, einer Volksgruppe, die zwischen dem späten Mittelalter und der Moderne sehr isoliert war, und die deshalb ein beliebtes Objekt für genetische Untersuchungen sind, stammten nicht aus Skandinavien, sondern aus Britannien, Irland, dem Baltikum und anderen Teilen Europas. Eine der im berühmten Königinnengrab von Oseberg bestatteten Frauen hatte Vorfahren, die vom Schwarzen Meer stammten, ein Mann in einem spätantiken dänischen Grab stammte offensichtlich aus dem arabischen Raum, usw. . Heutigen Rassisten, die angesichts dieser Tatsachen behaupten, die „alten Nordgermanen“ hätten wenigstens darauf geachtet, nur „weiße“ Frauen zu nehmen (an „fremde“ Ehemänner denken sie bezeichnenderweise nicht), sei gesagt, dass einige Isländer eine Gensequenz haben, die unter Europäern sonst nicht vorkommt – aber bei Ostasiaten und bei nordamerikanischen Indianern.

14. „Frauen hatten bei den Wikingern wenig zu sagen“

Der heutige Wikingermythos sieht die Wikinger als Männer, als Krieger, Seefahrer oder tatkräftige Siedler. Es kann auch kaum ein Zweifel daran bestehen, dass die wikingerzeitliche Gesellschaft „patriarchalisch“ war, also Männer privilegierte. Allerdings lag die Wirtschaft und Verwaltung der Höfe während der monatelangen Abwesenheit ihrer Männer in den Händen der Frauen – was nicht möglich gewesen wäre, wenn die soziale Stellung der Frauen sehr niedrig gewesen wäre. Aus Island ist sogar die einseitige Ehescheidung durch die Frau bekannt. Während Raubzüge und Krieg „Männersache“ waren, galt das nicht für die Kolonisation und auch nicht für den Handel: Die für die Gräber von Händlern typischen Waagen und Gewichte als Grabbeigabe fanden sich zu 20% in Frauengräbern.

Foto: Phoenix

15. „Die Wikingerzüge wurden durch Überbevölkerung ausgelöst“

Das Problem der Forschung über die Ursachen der Wikingerzüge liegt darin, dass zeitgenössische Texte darüber nur wenig Auskunft geben, und die wenige Quellen dann noch von Behauptungen über die sexuelle Zügellosigkeit der Heiden und die noch auf römische Autoren zurückgehende Behauptung, skandinavische Frauen seien ungeheuer fruchtbar, überlagert sind. Obwohl Hungersnöte oder Mangel an bebaubarem Land in einzelnen Fällen tatsächlich frühmittelalterliche Skandinavier zur Auswanderung veranlassten, und die Behauptung, dass vor allem jüngere Söhne, die beim Erbe leer ausgegangen waren, in die Ferne zogen, nicht völlig aus der Luft gegriffen ist – von einer Überbevölkerung Südskandinaviens und Dänemarks konnte keine Rede sein. Es gibt tatsächlich keine archäologischen Hinweise, die für eine Überbevölkerung dieser Gebiete im 8. und 9. Jahrhundert sprechen würden, und es fehlen auch Spuren, die auf eine erhöhte Sterblichkeit durch Unterernährung oder Seuchen hinweisen könnten. Adam von Bremen schrieb noch gegen Ende des 11. Jahrhunderts, dass Jütland und Norwegen über weite Strecken brach lagen. Landknappheit war also nicht die Hauptursache der wikingerzeitlichen Expansion.

16. „Wikinger strebten den Heldentod an“

Alles deutet darauf hin, dass die Wikinger ihre Beutezüge gern überlebten, allein schon, weil ein Toter nichts von der Beute hat, wie es im Hávamál ziemlich offen gesagt wird. Eben jenes Hávamál, deren Schlussvers den neuzeitlichen Germanentümlern oft missbraucht wurde, um den „Heldentod“ zu verherrlichen. In der Übersetzung von Felix Genzmer lautet er: „Besitzt stirbt, Sippen sterben, du selbst stirbst wie sie; eines weiß ich, das ewig lebt: des Toten Tatenruhm“. Er muss aber im Kontext gesehen werden. Der Vers: „Der Handlose hütet, der Hinkende reitet, tapfer der Taube kämpft; blind ist besser als verbrannt zu sein, nichts taugt mehr, wer tot“, ermutigt z. B. schwer verwundete Krieger ausdrücklich zum Weiterleben. Es gibt zwar wirklich Sagastellen, die von der Angst alter Recken berichten, den „Strohtod“, also den Tod im Bett, zu sterben, allerdings muss auch das im jeweiligen Kontext gesehen werden – und vor dem Hintergrund, dass die Sagas, wie die Heldenlieder, schon höfische Dichtung waren und nicht die Ansichten der Krieger auf dem Schlachtfeld wiedergeben.

17. „Die Wikinger waren so verbissene Kämpfer, weil sie auf eine Belohnung im Jenseits hofften“

Es gibt keine zeitgenössische Quelle, dass Wikinger tatsächlich darauf gehofft hätten, nach dem Tod in „Odins Kriegerparadies“ einzugehen. Es ist durchaus offen, wie weit die Vorstellung, die „gefallenen Helden“ kämen nach Walhall, wirklich unter den einfachen Kriegern verbreitet war. Selbst wenn man die eddischen Mythen beim Wort nimmt, ist Walhall eher ein Trainingslager für den Endkampf mit den „Mächten des Chaos“ im Ragnarök als ein Paradies. Also eine Zwischenstation, kein ewige Glückseeligkeit. Übersehen wird auch gerne, dass nicht Odin, sondern Freyja die erste Wahl unter den Gefallenen hat.
Was die Wikinger motivierte waren sehr diesseitige Gründe: Beute, Land, Macht, oder auch, in der Phase, als sich die nordischen „Großkönige“ durchsetzten, persönliche und politische Freiheit.

18. „Die Wikingerfeldzüge waren gegen das Christentum gerichtet“

Die naheliegendste Erklärung, wieso die frühen Wikingerüberfälle sich gegen Klöster und Kirchen wendeten, ist, dass dort am meisten zu holen war – bei relativ überschaubarem Risiko. Da der Übergang zur (feudalen) Staatlichkeit mit starker Zentralgewalt des Königs mit der Christianisierung Hand in Hand ging, sich Kirche und Fürsten gegenseitig stützten (und gegenseitig instrumentalisierten), war der Kampf gegen die bäuerliche Selbstregierung einerseits und gegen „Kleinkönige“ andererseits mit der „Bekämpfung des Heidentums“ eng verbunden. Allerdings kann man nicht sagen, dass „heidnisch“ automatisch für „bäuerlich-selbstbestimmt“ und „christlich“ für „feudal-zentralistisch“ standen. Die Christianisierung war, allerdings von einigen blutigen Ausnahmen abgesehen, ein eher friedlicher und eher unspektakulärer Vorgang. Allerdings dürfte die Darstellung vom freudig und freiwillig angenommenen neuen Glauben ebenfalls falsch sein; der „freiwilligen“ Annahme des Christentums durch das Althing in Island ging eine massive Erpressung des norwegischen Königs Olav zuvor.
Für viele Nordländer kam es offensichtlich auf einen Gott mehr oder weniger nicht an, die pragmatische Sicht zeigte sich in der Kunst und am deutlichsten in Gussformen, in denen sowohl Thorshämmer wie christliche Kreuze gegossen werden konnten. Erst im 12. Jahrhundert, in der Zeit der Kreuzzüge und der Kirchenreform, wurde der Synkretismus zwischen Heidentum und Christentum durch die „zweite Christanisierung“ weitgehend beendet.

19. „Die Christianisierung bedeutete das Ende des Wikingertums“

So sehr die frümittelalterlichen Chronisten in ihren Klöstern die Untaten der heidnischen Wikinger verdammten, gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Krieger aus dem Norden nach erfolgter Taufe weniger grausam gewesen wären. Die Häufigkeit, mit der der Begriff vikingr noch gut 200 Jahre nach der Christanisierung auftaucht, deutet darauf hin, dass Seeraub und Kleinkrieg noch weit verbreitetet gewesen sein müssen. Das Ende der Wikingerzeit kam mit dem Erstarken der staatlichen Zentralgewalt auch in Nordeuropa, als nicht einmal mehr ein Jarl, geschweige denn jemand geringeren Ranges, mit einer freiwilligen Gefolgschaft auf eigene Faust „auf Viking“ gehen konnte. Das Christentum trug zu dieser Entwicklung nur indirekt bei, indem die Herrscher die neue Religion und ihrer Strukturen nutzten, um ihre Autorität zu stärken. Die Kirche wurde zum Werkzeug des Staates. Auch der „rein kriminelle“ Seeraub hatte es mit dem Aufkommen großer stehender Heere und Flotten zunehmend schwer. Der Fernhandel, das andere kennzeichnende Element des Wikingerzeit, brach teils zusammen und nahm andernteils eine andere, straffer organisierte, Struktur an, nachdem der wikingerzeitliche Silberhandel im 11. Jahrhundert zusammengebrochen war und das vormalige Ostfrankenreich (das spätere Deutschland) an Macht gewonnen hatte.

20. „Dass Wikinger je etwas anderes als Räuber gewesen wären, ist ein Produkt nationalromantischer Geschichtsschreibung“

Diese Ansicht ist einerseits sozusagen das Gegenstück zu der romantischen Verklärung der Wikingerzeit, und sie ist, anders als die ebenfalls als Gegenstück zur Nationalromantik zu sehenden „Barbarentheorie“, sogar historisch fundiert. Beschränkt man „Wikinger“ nämlich auf die tatsächlich in mittelalterlichen Texten ausdrücklich vikingr genannten Menschen, dann waren das in der Tat durchweg Seeräuber oder blutige Privatfehden führende Freischärler, bestenfalls „Raubhändler“. Es ist einerseits sicher nicht historisch korrekt, alle mit der nordeuropäischen Expansion des frühen Mittelalters einhergehenden Aktivitäten, einschließlich der Kolonisation im Nordatlantik, unter dem Stichwort „Wikinger“ zusammenzufassen. Anderseits ist auch eine Engführung problematisch, weil die negative Konnotation von vikingr sich erst im Laufe der Jahrhunderte entwickelte, und das Wort viking alle langen Seereisen umfasste.

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3 Kommentare
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  1. […] zurecht pauschal “Wikinger” genannt) weichen stark voneinander ab. (Siehe hierzu z. B. 20 populäre Irrtümer über Wikinger. Allerdings halten sich Vostellungen von einer brutalen Kriegerkultur “im hohen Norden” […]

  2. Hey!

    Mir hat es wirklich großen Spaß gemacht. das hier zu lesen und auch ich, der sich selbst als „Wikingerfan“ sieht, hat wieder ein paar neue Sachen gelernt 🙂
    (Ich war auch eine Zeit lang Ásatrúar)

    Da sich solche „Seiten“, nenn ich sie mal, aber oft widersprechen und der Leser nicht mehr weiß, wer nun Recht hat, hätte ich gerne noch ein paar Quellen gelesen, die deine Thesen stützen.

    Nichtsdestotrotz: Sehr gute Arbeit 🙂

    Mit freundlichen Grüßen,
    Heathen

  3. Danke für das Lob!

    Zu den Quellen: ich gebe in journalistischen Texten ungern einen Quellenapparat an, der wäre bei diesem Text, wenn ich es wissenschaftlich korrekt machen würde, fast so lang wie der eigentliche Text

    Verwendet habe ich unter anderem:
    Regis Boyer, Die Piraten des Nordens , Klett-Cotta, 1997
    Rudolf Simek, Die Wikinger, C.H.Beck, 1998
    Arnulf Krause, Die Welt der Wikinger, Campus, 2006

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