DER SPIEGEL-Geschichte „Die Germanen – Europas geheimnisvolles Urvolk“

13. Mai 2013 | Von | Kategorie: Sach- und Fachbücher

Titelbild "Der Spiegel - Geschichte" - "Die Germanen"
„Der Spiegel – Geschichte“ Ausgabe Nr. 2/2013: „Die Germanen – Europas geheimnisvolles Urvolk“
SPIEGEL-Verlag, Hamburg
Redakteur dieser Ausgabe: Johannes Saltzwedel
148 Seiten
Broschiert
Preis: 7,80 €

Zwischen seriöser Populärwissenschaft und oberflächlichem „Histotainment“

Das Hamburger Nachrichtenmagazin und die Germanen – das ist eine nicht immer erfreuliche Geschichte. Mit leichtem Grausen erinnere ich mich an Artikel wie „Störenfriede im Nebelland,“ die kein Barbaren-Klischee ausließen. Anderseits fehlt es nicht an Artikeln, die mit dem Begriff „Germanen“ großzügig bis fahrlässig umgehen, z. B. wurde die Sternscheibe von Nebra im „Spiegel“ kurzerhand „germanischen Sterndeutern“ zugeschrieben.

Der erste Eindruck beim Durchblättern ist nicht schlecht, trotz des unzutreffenden Untertitels „Europas geheimnisvolles Urvolk“. Schließlich gab es die Germanen erst seit der Eisenzeit. Sportlich gedacht und salopp ausgedrückt könnte man vielleicht in der Bronzezeit protogermanische Völkerschaften ausmachen, aber bei „Urvolk“ denk der normale Leser doch wahrscheinlich eher an die Steinzeit, irgendwann kurz vor oder nach der Einführung des Ackerbaus, oder vielleicht sogar noch drei Steine weiter an die Zeit direkt nach dem Neandertaler. Immerhin rückt schon das Vorwort diesen schiefen Eindruck gerade. Dass eher sachliche Artikel reisserische Überschriften verpasst bekommen, die mit dem Inhalt nur am Rande zu tun haben, ist leider „Spiegel“-typisch.

Zum guten optischen Eindruck tragen die Fotos und Graphiken bei, eine traditionelle Stärke des Zeitschriftenformats. Sehenswert ist z. B. die graphische Rekonstruktion einer germanische Siedlung zur Zeit des Römischen Reiches.
Allerdings griff die Redaktion allzu oft auf „Historienschinken“ zur Illustration historischer Ereignisse zurück, die zwar einiges über das Germanenbild des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts, aber nichts über die historischen Germanen verraten, und daher besser auf den einleitenden Artikel „Traumbild der Ahnen“ beschränkt geblieben wäre.

Der Inhalt ist in eine ausführliche Einleitung und vier Kapitel gegliedert: „I. Die Ursprünge“, „II. Krieger und Kolonisten“, „III. Die Epoche der Völkerwanderung“ und „IV. Wege zur Nation“. Eine relativ willkürliche Gliederung, wobei „Wege zur Nation“ irreführend ist – die Westgoten, Vandalen, Ostgoten, Franken, Angelsachsen und Langobarden gründeten zwar Staaten, die aber mit den neuzeitlichen Nationalstaaten herzlich wenig zu schaffen haben.

Unangenehm fällt die sehr unterschiedliche Qualität der Artikel auf.
Höhepunkte sind z. B. das Interview mit dem Althistoriker Mischa Meier „Cäsar hat die Germanen erfunden“ und Angelika Franz‘ Artikel „Reicher Bauer, großer Stall“, in dem es über archäologische Erkenntnisse über das Leben germanischer Bauern geht.
Andere Artikel verfehlen dieses Niveau weit, am weitesten ein seltsamer Aufsatz mit dem seltsamen Titel „Fliegende Misteln“ von Mathias Schreiber, in dem es über die Mythen und Götter der Germanen geht, und der vor Halbwahrheiten und Fehlern geradezu strotzt.
Ein paar Kostproben:

„Nur der Schamane darf den Wagen berühren und lenken“

Ja, man kann Tacitus‘ Nerthus-Priester tatsächlich als eine Art „Schamane“ interpretieren, aber viele Historiker halten die Vermutung, es hätte bei germanischen Völkern Schamanen gegeben, für ziemlichen Blödsinn.

„Allerdings kennt man auch die Namen etlicher weiterer Fruchtbarkeitsgötter, zum Beispiel Ostara und Frija.“

Tja, schade nur, dass der Name „Ostara“ eine sprachliche Rekonstruktion Jacob Grimms ist, und dass es durchaus nicht gewiss ist, ob so eine Göttin überhaupt verehrt wurde.
Ob der Hammer des Auktionator, wie im Artikel behauptet, etwas mit „Thors Hammer“ zu tun hat, ist reine Spekulation.
Dann gibt es noch unglückliche Formulierungen wie:

„Verehrt wird Odin, der als einziger der germanischen Götter einen Hut trägt (…)“

oder missverständliche wie

„Odin ist der Weiseste der Asen, jenes Götterkollektivs, das den Himmel beherrscht und mit den Wane konkurriert, den Schutzherren des Ackers. Den Streit gewinnen zwar die Asen, doch Ober-Ase Odin wird von einem Ungeheuer, dem Fenriswolf, getötet.“

Damit entsteht, ungewollt, wie ich vermute, der Eindruck, im Ragnarök würden die Asen gegen die Wanen kämpfen. Der Wanenkrieg, der durch einen Friedensvertrag und den Austausch von Geiseln besiegelt wurde, ist allerdings ferne Vergangenheit und hat nichts mit dem Weltenbrand des Ragnarök zu tun.
Wie solche Schnitzer zustande kommen, obwohl Schreiber sich auf den Skandinavisten und germanistischen Mediävisten Rudolf Simek bezieht, dessen „Lexikon der Germanischen Mythologie“ das deutschsprachige Standdardnachschlagewerk dieser Thematik ist, ist mir unverständlich.

Dass der Graphiker / die Graphikerin bei der Gestaltung des Stammbaums der Asen dann auch noch auf die Bildsprache der Marvel-Comics („Der mächtige Thor“) zurückgriff, setzt dem Ganzen sozusagen die Krone auf. Nichts gegen Comics und Comic-Verfilmungen, aber der alberne Hörnerhelm des Marvel-Lokis hat in einer historische Darstellung nichts verloren!

Ich gehe auf „Fliegende Misteln“ besonders ein, weil die germanischen Mythologie nun einmal „meine Baustelle“ ist, und mir daher schiefe Darstellungen besonders ins Auge fallen.
Andere stoßen sich vielleicht eher an den Zahlenangaben, wie es sie z. B. in Uwe Klussmanns Artikel über Arminius, „Rebell gegen Rom“ gibt. Das Varusheer wird mit etwa 30.000 Mann angegeben, auch wenn es ebenso gut 20.000 oder nur 15.000 gewesen sein könnten. Immerhin ist ungefähr bekannt, wie groß drei römische Legionen mit Hilfstruppen und Tross gewesen sein könnten.

„Mit etwa 18.000 Mann griffen die Kämpfer des Arminius an.“

Das ist Stochern im Nebel, denn dass es zur Mannschaftsstärke der Cherusker irgendwelche Quellen oder archäologische Erkenntnisse gäbe, wäre mir neu.

„Im Jahr 14 n.Chr. schritten 12.000 Römer über eine Behelfsbrücke über den Rhein und verwüsteten das Land zwischen Ems und Lippe.“

Wie kommt Klussmann ausgerechnet auf 12.000 Römer? Wenn es dazu neue Erkenntnisse gibt, die solche relativ genauen Zahlenangaben möglich machen, hätte Klussmann auf sie hinweisen sollen.

Auch wenn sich Aussagen aus verschiedenen Artikeln widersprechen, trägt das nicht zum seriösen Gesamteindruck bei. Georg Bönisch bezeichnet zum Beispiel die „Germania“ als

„Phantasiererzählungen des Tacitus“

, während Johannes Saltzwedel herausstellt:

„Sicher ist: Tacitus, der selbst nie in Germanien war, verarbeitete für sein Kompendium viele gute – heute leider fast durchweg verlorene – Informationsquellen.“

Es geht mir nicht um „Haarspaltereien“, wenn ich solche „kleinen Fehler“ aufspieße, sondern darum, dass solche „Kleinigkeiten“, wenn sie sich häufen, ungewollt ein „schiefes Bild“ ergeben.
Ich weiß über den Journalismusbetrieb zu gut Bescheid, als dass ich den Autoren diese Fehler ankreiden würde. Zum Beispiel ist die Zeit für Recherchen notorisch knapp, und es kommt leider auch bei seriösen Zeitschriften immer wieder vor, dass Artikel beim Redigieren bis zur Unkenntlichkeit „verschlimmbessert“ werden.
Die meisten Artikel sind für sich genommen brauchbar bis gut, aber das Konzept von „Die Germanen“ ist meiner Ansicht nach fragwürdig.
Der Eindruck, dass einfach alle möglichen Beiträge zusammenstellt wurden, die „irgendwie“ zum Thema passten, drängt sich mir geradezu auf.

Selbstverständlich ist es legitim, wenn populärwissenschaftliche Magazine so geschrieben werden, dass sie eine möglichst große verkaufte Auflagen erreichen. Es ist auch völlig klar, dass die Leser nicht hinter jedem Satz einen Quellenverweis finden wollen – in journalistischen Texten ist ein „Quellenapparat“ weder erforderlich noch üblich.
Anderseits merkt man der Zeitschrift an, dass sie nicht in erster Linie auf Unterhaltung und amüsante Sensationsdarstellungen, auf „Histotainment“ im schlechten Sinne, abzielt. Auch wenn „Der Spiegel – Geschichte“ keinerlei wissenschaftlichen Anspruch erhebt, hat er immerhin den Anspruch, zu informieren und aufzuklären – was einigen Artikeln gelingt, woran andere leider kläglich scheitern.

Martin Marheinecke

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